Erste Inspiration für das Bühnenbild zur Oper "Im Dickicht" (Foto: Sabine Meyer)

Uraufführung | Im Dickicht

Was eine Stimme erzählt und was in ihr erscheint

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Die Komponistin Isabel Mundry und der Librettist Händl Klaus im Interview

Liebe Isabel Mundry, als Sie den Auftrag der Schwetzinger SWR Festspiele bekamen, eine neue Oper zu schreiben, welche Überlegungen und Ideen standen am Anfang Ihrer Arbeit? Von Anfang an wusste ich, dass mein Musiktheater um das Phänomen der Zeugenschaft kreisen soll: Wie erinnert man etwas, wie zeigt es sich im Jetzt und was macht es mit dem Ort, an dem erinnert wird? Zudem sollte es um das unumgänglich Perspektivische des Erinnerns gehen. Beschäftige ich mich mit dem Erinnern, dann ebenso mit blinden Flecken, Verschiebungen und dem Vergessen. Von Anfang an wusste ich zudem, dass mich musikalisch die Differenz zwischen dem Sagen und Zeigen interessiert. Jemand erzählt etwas, aber eine Nuance in der Stimme oder ein leises Zittern erzählt etwas anderes. Zu Beginn stand also die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, ohne einen Stoff zu haben. In dieser Phase führte ich viele, sehr anregende Gespräche mit Carolin Emcke, über Ausdrucksformen des Erinnerns, vor allem dort, wo die Sprache versagt. Gleichzeitig beschäftigte ich mich mit den Inszenierungen von Rabih Mroué und den Installationen von Pierre Huyghe. Beide empfinde ich als meisterhaft darin, Situationen des Bezeugens künstlerisch hervorzubringen.

Was fasziniert Sie an der Gattung Musiktheater? Ich kann gar nicht sagen, dass mich diese Gattung prinzipiell fasziniert. Dafür ist sie viel zu heterogen. Dort, wo ich selbst im Kontext Musiktheater gearbeitet habe, war jedoch immer ein zentrales Motiv, den Klang­Raum und die Bewegungen kompositorisch mitzudenken und kollaborativ zu arbeiten.

Lieber Händl Klaus, Sie schreiben Texte verschiedener Art – von Prosa über Stücke fürs Sprech- und Musiktheater bis hin zu Hörspielen und Drehbüchern. Spielen klangliche Parameter – wie zum Beispiel der Klang und Rhythmus von Sprache – eine Rolle in Ihren Opernlibretti? Oh ja, dem ordnet sich alles unter – ich suche nach einer "Vormusik" aus wörtlicher Sprache, die dann in der eigentlichen Musik aufgeht. Oder sie steht als Reibebaum da bis zuletzt.

Lassen Sie sich beim Schreiben auch von Musik der Komponisten und Komponistinnen inspirieren, mit denen Sie zusammenarbeiten? Ja, die große Nähe zu einem bestehenden Werk schafft erst die Voraussetzung für eine solche Begegnung – eine jede Musiksprache ist ja ganz eigen und löst nur gewisse Stoffe aus oder lässt sie zu. Und sie formt unbewusst­bewusst meine wörtliche Sprache mit aus, die sie sich dann ganz zu eigen macht – ich schreibe in der Gestimmtheit dieser anderen, musikalischen Sprache, bin wie davon getragen. Während der Arbeit am Dickicht half mir außerdem die Begegnung mit neuen Werken Isabels, die auch für unsere Oper richtungsweisend waren – "Mouhanad" in Donaueschingen, die Neufassung der "Endless Sediments" in Stuttgart und in Paris das faszinierende Schlagzeugkonzert "Noli me tangere".

Wie darf man sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen vorstellen? Isabel Mundry: Lange Zeit tauschten wir uns parallel auf zwei Ebenen aus. Einerseits gab es ein systematisches Durchdringen der Erzählung "Im Dickicht" von Ryūnosuke Akutagawa, Wort für Wort, wofür ich mehrere Lesepläne erstellt habe. Es war letztlich eine Arbeit an der Form. Andererseits haben wir uns viel über die Dispositionen und Ausdrucksformen von Menschen im Kontext von Zeugenaussagen ausgetauscht und über Wahrnehmungen, die sich in keinem Wort finden. Hierfür hat Klaus wiederum viele Hinweise gesammelt und mir geschickt. Nicht zuletzt bedeutete für uns beide die Arbeit an solch einem Thema auch ein Austausch über persönliche Erfahrungen. Beim Schreiben selbst ziehen wir uns immer wieder zurück, doch dann kommen wir aus unseren Höhlen auch wieder hervor und diskutieren die Ergebnisse.

Händl Klaus: Zunächst gibt es die gemeinsame Feldforschung mit der Komponistin, und an Isabels Seite führte sie wirklich in den Wald – die Fragen, die uns "Im Dickicht" stellt, kreisten wir auf langen Wanderungen und auch am Schreibtisch, und Musik hörend, ein – auch das konkrete Erleben und (absichtsvolle) Erinnern der Figuren, ihre denkbaren Motive. Ich besuchte auch Gerichtsverhandlungen, um mich mit den entsprechenden Ritualen vertraut zu machen. Im weiteren, intensiven Dialog entwickelte Isabel die Dramaturgie, also eine exakte Struktur des Werks. Im Schreiben selbst musste ich – so wie immer – die eigentlichen Stimmen aufspüren. Und als dies geschehen war, tauschten wir uns darüber aus; jedes Wort steht auf dem Prüfstand, bis der Kompositionsprozess abgeschlossen ist.

Als textlich-inhaltliche Grundlage Ihres Musiktheaters haben Sie Akutagawas "Im Dickicht" gewählt. Was hat Sie an dieser Kurzgeschichte interessiert? Isabel Mundry: Diese Geschichte passte perfekt in mein zentrales Interesse am Sujet "Erinnern", dem ich zunächst ohne einen Text nachgegangen bin. Als sie hinzukam, entfaltete sie eine eigene Sogkraft. In dieser Phase fragte ich Klaus, ob er Lust hätte, das Libretto zu schreiben. Seither arbeiten wir in einem intensiven Austausch. Ein und dasselbe Geschehen wird in dieser Erzählung aus drei Perspektiven erzählt. Ein Paar und ein Räuber begegnen sich zufällig in einer Waldpassage, am Ende wurde die Frau vergewaltigt und der Ehemann ist getötet. Dessen Version wird, mittels eines Mediums, ebenfalls erzählt. Das Spannende an der Geschichte ist, dass sich die Beteiligten jeweils selbst der Tat bezichtigen. Sie lügen also nicht, um ihre Haut zu retten, sondern weil sie offensichtlich noch stärkere Motive haben, das Geschehen so erlebt haben zu wollen. Scham und der Umgang mit Demütigung spielen dabei eine zentrale Rolle. Für zwei von ihnen ist die Variante, Täter zu sein, anscheinend erträglicher als die des Opfers. Das ist ein Nährboden für mein musiktheatralisches Interesse an der Differenz zwischen dem, was eine Stimme erzählt und was in ihr erscheint, als Abdruck oder Spur des Erlebten. Es ist der Unterschied zwischen Symbol und Index oder, nach dem Philosophen Nancy, zwischen Sens und Présence. Zudem fand ich die Verschränkung zweier Schauplätze kompositorisch äußerst reizvoll: einem Erinnerungsort und einem Verhandlungsort, der selbst schon wieder ein Bezeugen hervorruft. Für ihn komponiere ich Eigenklänge, die genau diesen Raum markieren.

Händl Klaus: Abgesehen vom Spannungsfeld, das dieser Dichter schafft, ist es die glasklare Sprache, die einen bis auf den Grund eines uralten Brunnens schauen lässt.

Wie sind Sie bei der Bearbeitung der Kurzgeschichte vorgegangen? Maßgeblich war die von Isabel entwickelte Struktur, die auch vom Alten Japan fortführt in ein Heute mit einem Nicht­Ort als wichtigstem Schauplatz. Und es ging, vielleicht stärker als in der Vorlage, um den Abdruck von Trauma in der Sprache – da waren Carolin Emckes Essays für mich ganz wesentlich. Ich suchte nach den eigenen Fühl­, Denk­, Sprechweisen der Frau, des Manns, der gleichfalls traumatisiert ist, und des eigentlichen Täters. Auch das Sprechen der drei Zeugen, die von demselben Darsteller – Bernhard Landauer – verkörpert werden, unterscheidet sich jeweils "wesentlich".

Die Kurzgeschichte wie auch das Libretto reihen verschiedene Schilderungen des Geschehens aneinander, ohne dabei deutlich zu machen, welche Aussage wahr oder erfunden ist. Greifen Sie das Thema der Variation einer Begebenheit auf? Isabel Mundry: Es stimmt, dass gängige Interpretationen des Textes darauf hinauslaufen, Wahrheit als eine Frage der Perspektive zu erachten. Diese Lesart feiert den Relativismus. In Fragen von Gewalt finde ich das problematisch und als Stoff für eine Oper wenig reizvoll. Viel spannender finde ich es, in den Stimmen nach einer eigenen Wahrheit zu suchen, jenseits dessen, was sie sagen. Dafür muss man sich jedoch einigen, wer der Mörder ist. Erst dann werden die divergierenden Versionen signifikant. Mit diesem Ansatz begannen wir, die Zeugenaussagen unter der Lupe zu lesen. Dabei kristallisierte sich heraus, dass die eine Person als Täter höchst wahrscheinlich ist, die andere möglich, aber weniger stimmig, und die dritte unlogisch. Hier zeigt sich die untergründige Meisterschaft des Textes von Akutagawa. Jedes Detail, jede Auslassung oder Abzweigung der Beschreibungen wird relevant. An einer zentralen Stelle zum Beispiel deuten zwei der Personen je einen Blick, ohne das dazugehörige Gesicht vollständig zu sehen. Ihre Deutungen sagen viel mehr über sie selbst aus als über die Betrachteten. Und sie weisen darauf hin, was sie nicht sehen wollen oder können, aus Schock, Wut oder Scham. Meine Arbeit mit der Variation ist Grundlage für das Herauskristallisieren solch subtiler Differenzen.

Mit der Richterin haben Sie eine zusätzliche Figur integriert, die es bei Akutagawa nicht gibt. Isabel Mundry: Tatsächlich war das mein Wunsch. Erinnerung lebt von Situationen, die sie hervorrufen und triggern, aber auch beeinflussen. Man ahnt, wie sehr in dieser Erzählung gesellschaftliche Normen und Tabus das Erinnern lenken. So gab es zum Beispiel zwei Verbrechen, nämlich eine Vergewaltigung und einen Mord, doch nur das zweite wird verhandelt. Das Triggern von Erinnerung wird bei Gerichtsprozessen von vielen Seiten betrieben. Ich wollte eine Figur haben, die es repräsentiert.

Der Chor übernimmt bei "Im Dickicht" eine besondere Funktion. Er steht nicht auf der Bühne und ist bewusst nicht szenisch eingebunden. Isabel Mundry: Der Chor ist das Gegenüber der Richterin. Sie triggert die Zeugenaussagen. Er thematisiert das Hören. Wir alle kennen das: Wir sprechen etwas aus, und anschließend spüren wir den Raum und die anderen, oder projizieren etwas in sie hinein. Der Chor im Raum ist wie eine Membran. Oder wie eine zweite Haut.

Mit von der Partie: Die SWR Klangkörper

Wie gehen Sie beim Vertonen des Librettos vor? Lassen Sie sich von inhaltlichen Motiven leiten, von den Figuren oder arbeiten Sie nach rein klanglichen Gesichtspunkten? Weder noch. Hier provozieren nicht die Figuren Motive, sondern die von ihnen verhandelte Geschichte. Durch sie sind sie miteinander verstrickt. Diese Motive wirken in meinem Stück wie eine Matrix, trotz individueller Lügen und Auslassungen. Alle drei Versionen bewegen sich in dieser Matrix und erzeugen dabei signifikante Differenzen. Das können ebenso Abschweifungen sein wie Lücken, Gesten oder somatische Indizien. Für dieses Stück habe ich mich erneut intensiv mit dem Phänomen Stimme beschäftigt. Aber auch die Harmonik, Rhythmik und Figuration habe ich neu durchdacht. Sie müssen es leisten, dass sich das eine immer wieder neu in das andere legen kann.

Während der Entstehung des Werks sind Sie immer wieder auch im Austausch mit dem Regisseur David Hermann und der Bühnenbildnerin Bettina Meyer. Beeinflussen diese Gespräche Ihre Komposition? Generell finde ich es bei musiktheatralischen Prozessen wesentlich, genau zu überlegen, welche Ebene in der Werkgenese wann relevant wird. Je nach Idee, sind manche von Anfang an konstitutiv, andere sollen länger offen bleiben. Ich habe diesbezüglich bei meinen Musiktheaterstücken sehr unterschiedliche Entscheidungen gefällt, bin auch selbst in verschiedenen Phasen bei Werken anderer eingestiegen. In diesem Projekt stand das Wort zunächst vor dem Bild. Gleichzeitig war das Mitdenken des Visuellen im Dialog mit Klaus permanent präsent. Indem wir uns darüber verständigt haben, schärften wir auch die Sinne für das Eigene. Als Bettina und David hinzukamen, hatte ich zunächst Sorge, dass sie sich durch unsere inneren Bilder bedrängt fühlen könnten. Doch sie wurden offen aufgenommen und auf spannende Weise transformiert. Seither geht das fruchtbare Hin und Her von Ideen, Fragen und Anregungen in größerer Runde weiter, selbst wenn wir uns kaum alle gleichzeitig begegnen. Wir sind wie schwimmende Inseln, zwischen denen der Sand weht und jeweils die Formationen beeinflusst. Ich empfinde das als eine wunderbare Form des Zusammenarbeitens.

Die Fragen stellte die Dramaturgie Elena Garica Fernandez (Staatstheater Mainz).

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SWR