Früher hat Meike Shalhawi sich nicht groß für Politik interessiert. Sie ist als Neunjährige mit ihren Eltern aus NRW in die rheinland-pfälzische Eifel gezogen. Das hat sie an sich schon fremd gemacht, aber als Kind hat sie sich nie Gedanken gemacht, woher Menschen kommen.
Obwohl sie nach einem Studium der Psychologie seit 2016 in der Geflüchtetenhilfe arbeitet, war das Thema Migration für sie immer eher etwas Persönliches als etwas Gesellschaftliches oder Politisches: "Ich wusste, ich möchte mit Menschen arbeiten und abends mit dem Gefühl nach Hause fahren, dass das, was man getan hat, einen Wert hat."

Ihre Haltung hat sich jetzt verändert: "Es hatte für mich nie etwas Politisches, weil meine Werte nie angegriffen wurden. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass die Werte, die mir wichtig sind und mit denen ich groß geworden bin, von der Politik nicht mehr wirklich berücksichtigt werden."
Denn Meike Shalhawi ist seit wenigen Monaten Mutter. Ihr Sohn Junis hat Migrationshintergrund, ihr Mann Anas Shalhawi ist 2015 aus Syrien geflüchtet.
Sie beobachtet gerade eine Stimmung in der Gesellschaft und der Politik, die Hass gegen Menschen wie Anas und Junis schürt: "Ich habe Sorge, dass mein Sohn im Leben für Sachen härter kämpfen muss als andere Kinder, obwohl er die gleichen Voraussetzungen mitbringt. Dass Menschen ihn persönlich anfeinden und dass ihn das an seinem Selbstwert zweifeln lässt."
Anfeindungen nach TV-Auftritt
Diese Sorgen hat Meike Shalhawi auch bei einem Auftritt in der Wahlarena des SWR formuliert. Und danach kamen die bösen Nachrichten: "Das hat meine Sorge, die ich zuvor noch gar nicht so bewusst hatte, noch verstärkt. Da merkt man, dass da draußen Menschen sind, die ganz anders denken, mir super feindselig gegenübertreten und mir böse Sachen unterstellen."
Dass man angefeindet wird, weil man für seine Werte einsteht, finde ich echt erschreckend.
Ihr sei vorgeworfen worden, sie habe sich vom System manipulieren lassen. Ihre Sorgen und ihre Geschichte, dass sie mit einem ehemals Geflüchteten, jetzt Deutschen, verheiratet ist und ein Kind hat, sei ausgedacht, um die AfD vorzuführen. "Dass man angefeindet wird, weil man für seine Werte einsteht, ist für mich ein Unding und ich finde das echt erschreckend."
Das ist wie ein Schlag ins Gesicht.
Ihre Sorgen wurden also bestätigt, obwohl sie zuvor nicht persönlich angefeindet wurde. Ihr Mann Anas Shalhawi hat so etwas hingegen schon oft erlebt: "Manchmal sage ich zu jemandem 'Hallo' und dann kommt nichts. Dann merke ich, die mögen mich nicht. Wir sind Menschen, wir haben Gefühle. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht."
Einmal sei er mit dem Auto unterwegs gewesen. Er hatte Vorfahrt, ein anderer ist trotzdem gefahren, er hat gewartet. "Aber dann hat er das Fenster runtergemacht und gesagt: 'Du Ausländer, geh in dein Land.' Warum hat er das gemacht? Ich hatte ihm nichts getan und kannte ihn nicht."
Flucht aus der Gefahr in Syrien
Anas Shalhawi ist kein Ausländer. Er ist vor fast zehn Jahren nach Deutschland gekommen und wurde mittlerweile eingebürgert, er ist Deutscher. "Aber manchmal bekomme ich das Gefühl, dass ich das nicht bin, wenn ich als Ausländer angesprochen werde. Dabei bin ich hier, ich habe die Sprache gelernt, ich träume oft sogar auf Deutsch. Ich fühle mich deutsch."

Am Tag seiner Flucht war er morgens noch in der Schule. Am Abend kam dann die Entscheidung, Syrien zu verlassen: "Ich habe meine Eltern verabschiedet und wusste nicht, ob ich zurückkomme. Es war so schlimm, sich an dem Tag zu entscheiden: Ich muss weg, sonst wird es gefährlich, weil ich irgendwo kämpfen muss. Dabei ist mir wichtig, dass Menschen friedlich miteinander leben können. Da konnte ich mir nie vorstellen, jemandem wehzutun."
Zwei Wochen war er unterwegs, erzählt er, ist mit 45 Menschen in einem kleinen, sieben Meter langen Gummiboot von der Türkei nach Griechenland gefahren: "Das war gefährlich. Aber die Gefahr, in Syrien selbst nicht in Sicherheit zu sein, war größer."
Integration nach der Flucht aus Syrien
Bis heute sei er dankbar, dass er in Deutschland aufgenommen wurde und Hilfe bekommen hat. Deshalb konnte er schnell die Sprache lernen und wieder in die Schule gehen. Ihm sei Bildung wichtig gewesen, Anas Shalhawi konnte sein Fachabitur und dann eine Ausbildung in dem Beruf machen, in dem er gern arbeitet.
Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht gesehen werden, die sich Mühe geben.
Als Bester des Bundeslandes in seiner Ausbildung sei er in Berlin geehrt worden: "Deswegen verstehe ich manchmal nicht, warum die Leute nicht gesehen werden, die sich Mühe geben."
Natürlich sei es auch schwer und anfangs überfordernd gewesen, mit der anderen Kultur, anderen Sitten, der anderen Sprache klarzukommen. Menschen hätten ihm wenige Monate nach seiner Ankunft gesagt, er solle doch Deutsch sprechen: "Das hätte ich ja gerne, wenn ich die Sprache damals schon gesprochen hätte."
Sorge um Gesellschaft und Politik nach Bundestagswahl
Heute, sagt Anas Shalhawi, kennt er in jedem Bereich, ob Job oder Freizeit, mindestens einen, der die AfD gut findet: "Das ist traurig und macht unsicher. Die sagen dann zwar: Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du arbeitest ja. Trotzdem ist es blöd zu hören, dass Leute jetzt offen sagen: 'Wir wollen keine Fremden in unserem Land.'"
Politik Konservativ, rassistisch, extrem – Was ist rechts?
Heimat, Nation, Tradition sind Werte der "Rechten" oder "Konservativen". Die Radikalisierung beginnt, wenn Andersdenkende abgewertet und verfolgt werden: politische Gegner, Ausländer, Juden.
Jetzt nach der Bundestagswahl, bei der es eine Mehrheit für konservative Parteien gab, machen Meike und Anas Shalhawi sich Sorgen, wie sich Gesellschaft und Politik zukünftig entwickeln.
"Dann werden Parteien wegen des einen Themas gewählt und die Leute bedenken nicht, welche anderen negativen Folgen es hat, wenn zum Beispiel die Grenzen dauerhaft kontrolliert werden: Dass man nicht mal eben in Luxemburg tanken kann. Oder in die Niederlande an den Strand fahren", sagt Anas Shalhawi.
Leute, die hier Sicherheit gesucht haben, sollen sich auch daran halten, die Sicherheit hier in Deutschland zu bewahren.
Ende Januar wurde ein Entschließungsantrag im Bundestag mit knapper Mehrheit angenommen, der unter anderem die dauerhaften Grenzkontrollen enthält und dass auch Asylsuchende an den Grenzen abgewiesen werden sollen. Der Antrag entstand auch unter dem Eindruck von Anschlägen und Angriffen, etwa in Aschaffenburg.
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Anas Shalhawi hat zu Straftätern mit Migrationshintergrund eine klare Haltung: "Ich denke, die Leute, die hier Sicherheit gesucht haben, sollen sich auch daran halten, diese hier in Deutschland zu bewahren. Wir sind hier, weil wir uns unsicher gefühlt haben. Ich sehe es so, dass dann auch jeder verpflichtet ist, die Sicherheit hier nicht zu beeinträchtigen."
Mehr Fokus auf gut integrierte Geflüchtete
Vor der Wahl, auch bei der SWR-Wahlarena, war oft die Rede davon, dass qualifizierte Ausländer nach Deutschland kommen dürfen und sollen. Diese Einschränkung versteht Anas Shalhawi, der als Jugendlicher ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung nach Deutschland kam, nicht: "Wäre ich damals direkt abgeschoben worden, hätte ich nicht die Gelegenheit gehabt, die Sprache zu lernen und mich zu integrieren."
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Aus seiner Sicht habe es keinen Sinn, Menschen, die nicht qualifiziert sind, wieder zurückzuschicken. Man sollte stattdessen Zeit und Mühe in sie investieren, sie zu integrieren: "Es gibt ja viele Menschen, die aktiv in der Gesellschaft sein wollen. Deshalb finde ich auch diese Verallgemeinerungen schwierig."
Er meint, dass die Gruppe der Geflüchteten, die wie er und auch einige seiner Freunde die Sprache gelernt haben und arbeiten, größer ist als die derjenigen, die das nicht tun: "Ich wünsche mir, dass in Zukunft der Fokus auf Migranten liegt, die etwas Gutes tun, zum Beispiel in der Medizin oder in der Pflege."
Mehr Integration und psychologische Hilfe für Geflüchtete
Seine Frau Meike wünscht sich Ähnliches von der Politik. Zum Beispiel auch, dass die Menschen angehört werden, die wie sie mit Migranten arbeiten, um Integration oder auch psychologische Hilfe für Geflüchtete zu verbessern: "Bei Aschaffenburg wird zum Beispiel gesagt, dass jemand einen Fluchthintergrund hat. Es wird nicht weiter darauf eingegangen, dass es um psychische Probleme geht."
Sie wisse aber aus ihrer Arbeit, dass die Möglichkeiten für Geflüchtete, sich psychologische Unterstützung zu holen, gegen Null gehen. "Selbst wenn es Wirtschaftsflüchtlinge sind, war der Weg hierhin traumatisch. Ich will nicht sagen, dass jeder Flüchtling ein Trauma hat und man da Unmengen von Geldern freisetzen kann, um jeden in Psychotherapie zu schicken. Aber zumindest der Zugang sollte ermöglicht werden."
Menschen gehen nicht auf die Flucht, weil sie da Lust drauf haben. Sondern aus existenzieller Not.
Meike Shalhawi wünscht sich auch, dass mehr für den Klimaschutz getan und mehr in den Ländern investiert wird, in denen es Krisen gibt. Damit das Leben dort lebenswerter und friedlicher wird und Fluchtursachen bekämpft werden: "Menschen gehen nicht auf die Flucht, weil sie da gerade Lust drauf haben. Man macht das, weil man existenzielle Not hat."
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Tägliche Begegnungen mit Alltagsrassismus
Vor allem aber wünscht sie sich eine tolerantere Gesellschaft, auch für ihren Sohn Junis, dem man ansehen wird, dass er einen Migrationshintergrund hat: "Junis ist hier geboren, er ist Deutscher und ich möchte nicht, dass er sich hier jemals fremd fühlen muss." Aber Alltagsrassismus sei ein Thema, das ihr täglich in der Arbeit begegnet, zu dem sie auch Schulungen gegeben hat.
So sei zum Beispiel der Satz "Du sprichst aber gut Deutsch" rassistisch: "Wenn der Postbote das zu meinem Mann sagt, der eingebürgert ist, fühlt er sich sein Leben lang als Fremder. Einmal steckt man das noch weg, beim zweiten Mal lächelt man unsicher und beim dritten Mal denkt man: Ist es denn so offensichtlich?"
Sie hat den Eindruck, dass die Existenzsorgen der Menschen von einigen Parteien genutzt werden, um Stimmen zu gewinnen und Stimmung zu machen gegen eine Minderheit: "Und die Unterscheidung zwischen dem 'akzeptierten' Geflüchteten und dem 'abzuschiebenden' Flüchtling erzeugt bei allen Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein."
Wunsch nach menschlichen Werten in Deutschland
Für ihr Kind, aber auch für alle Menschen, wünschen sich die Shalhawis daher ein Land mit menschlichen Werten und möglichst wenig Ausgrenzung und Hass: "Wir können andere Menschen nicht ändern. Aber wir können Junis unterstützen, dass er weiß, was er wert ist. Dass wir ihm die moralischen Werte vermitteln, von denen wir uns wünschen, dass sie ihm auch begegnen."
Und noch etwas wollen die Shalhawis ihrem Sohn vermitteln, weil sie es bereichernd finden, dass er mit zwei Kulturen aufwachsen wird: Er soll Deutsch und Arabisch lernen.
"Das sind zwei Sprachen, die man oft gebrauchen kann. Junis soll auch irgendwann seine Großeltern in Syrien treffen und sich mit ihnen unterhalten können. Ich muss mir nur Mühe geben, mit ihm auf Arabisch zu reden, weil ich es so gewohnt bin, hier zu Hause Deutsch zu sprechen", lacht Anas Shalhawi.