Der Gesetzgeber muss für den Schutz von Menschen mit Behinderung sorgen, sollte es durch Corona zu einer sogenannten Triage auf den Intensivstationen kommen. Das hat heute der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden.
Bei der Triage entscheidet ein Team aus Experten, welcher Patient die besten Überlebenschancen hat und vor jemand anderem einen der begrenzten Plätze auf der Intensivstation bekommt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird dabei derzeit nicht ausreichend dafür gesorgt, dass behinderte Menschen bei einer solchen Entscheidung nicht benachteiligt werden.
Das Gericht hatte dazu Facheinrichtungen und Sozialverbände befragt, die durchaus das Risiko einer Benachteiligung behinderter Menschen sehen. Denn deren Lebenssituation werde oft falsch beurteilt und unbewusst verallgemeinert, statt auf den Einzelfall zu schauen.
Trierer Richterin hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt
Nancy Poser, Betreuungsrichterin am Amtsgericht Trier, sitzt wegen einer angeborenen Muskelerkrankung im Rollstuhl. Sie hatte befürchtet, dass sie nach bisherigem Stand bei einer Coronainfektion auf der Intensivstation nicht mehr behandelt werden könnte.
Ihrer Ansicht nach hätte beispielsweise ein junger Familienvater immer den Vorzug vor Menschen mit Behinderung bekommen. Deshalb hatte Poser mit acht Mitstreitern Verfassungsbeschwerde eingelegt.
"Ich bin erleichtert. Glücklich würde ich nicht sagen, weil die Triage immer etwas Tragisches ist. Aber ich bin mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sehr zufrieden."
Ziel der Verfassungsbeschwerde war es, den Gesetzgeber dazu zu bringen, Regeln für eine Auswahl vorzugeben. Bisher hatte man die Entscheidung allein Medizinern überlassen. Poser ist erleichtert, dass das Bundesverfassungsgericht auch ihrer Ansicht ist, dass der Gesetzgeber sich dort nicht raushalten darf, weil er damit die Rechte behinderter Menschen verletzt.
Gesetzgeber muss "unverzüglich" handeln
Artikel 3 des Grundgesetzes besagt unter anderem, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Das Bundesverfassungsgericht leitet daraus einen Auftrag an den Gesetzgeber ab, Menschen mit Behinderung zu schützen.
In der Corona-Pandemie seien diese Menschen besonders gefährdet, sich zu infizieren und an Covid-19 zu sterben. Weil damit auch ihr Recht auf Leben nach Artikel 2 gefährdet sei, sieht das Bundesverfassungsgericht in der Pandemie sogar die Pflicht für den Gesetzgeber, sie besonders zu schützen.
Bisher habe der Gesetzgeber diese Pflicht verletzt und keine wirksamen Vorkehrungen gegen eine mögliche Benachteiligung getroffen. Das muss jetzt unverzüglich geschehen, so die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Wie nun ein konkretes Gesetz aussehen könnte, dazu räumt das Gericht dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein.
Leitlinie schließt Behinderung als Kriterium der Triage aus
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat Leitlinien für die Triage erarbeitet. Darin schließt sie Kriterien wie Alter, soziale Merkmale, Grunderkrankungen oder Behinderungen bei der Triage ausdrücklich aus. Stattdessen muss individuell und je nach Situation abgewogen und entschieden werden.
Dem Bundesverfassungsgericht reicht diese Empfehlung aber nicht aus, da sie rechtlich nicht bindend sei. Es könne trotzdem dazu kommen, dass Mediziner Menschen mit Behinderung bei einer Triage keine großen Heilungschancen ausrechnen - weil sie deren mögliche Gebrechlichkeit allgemein als Grund dafür sehen könnten, statt je nach Person zu entscheiden.
Gesetzgeber muss wirksame Maßnahmen finden
Dass Ärztinnen und Ärzte dabei in einer Ausnahmesituation sind, erkennt das Bundesverfassungsgericht an. Dies und die Tatsache, dass im Falle einer Triage schnell entschieden werden muss und auch alle anderen Patientinnen und Patienten nicht benachteiligt werden dürfen, müsse der Gesetzgeber beachten.
Dabei ist freigestellt, ob er Vorgaben zur Verteilung der Intensivplätze macht, ein Mehraugenprinzip oder eine Pflicht zur Dokumentation vorgibt. Er könnte auch Vorgaben zur Aus- und Weiterbildung des medizinischen Personals in Hinblick auf Menschen mit Behinderung machen. Klar ist jetzt nur, dass ein Gesetz zur Triage kommen muss.