"Ausgeblutet – im Schockraum unseres maroden Gesundheitssystems" - das ist der Titel, und das ist der Zustand, in dem Sâra Aytaç das Krankenhaussystem und sein Personal sieht. Da sei schon eine große Frustration bei den Mitarbeitern.
"Ich kenne keinen Kollegen, der aktuell zufrieden mit seiner Arbeit sein kann."
Seit zwei Jahren arbeitet Sâra Aytaç als Unfallchirurgin im Klinikum in Idar-Oberstein. Davor hat sie als Springerin deutschlandweit in Krankenhäusern ausgeholfen. Als sogenannte Honorarärztin hat sie in jener Zeit Szenen erlebt, die einem Gesundheitssystem, das zu den Weltbesten zählen will, so gar nicht entsprechen.
"Der Anspruch ist Champions League. Was tatsächlich abgebildet werden kann, ist Kreisliga."
Insektenfallen in OP-Nähe und verschmutzte Instrumente
In ihrem Buch schildert Sâra Aytaç Mängel bei der Hygiene – manche unschön, andere lebensgefährlich: etwa Insektenfallen auf dem Weg zum OP. Sie schreibt, wie sie einmal bei laufender Operation ein Instrument gereicht bekommt, in dem noch Knochenreste des vorangegangenen Eingriffs stecken. Als ausweglos habe sie die Situation erlebt. Mit dem Gewissen auf Dauer nicht zu vereinbaren.
Das Kernproblem: zu wenig Personal für zu viele Patienten. Sâra Aytaç erlebt Chirurgen in Dauerdiensten und Assistenten, denen im OP-Saal die Augen zufallen, weil es bei krankheitsbedingten Ausfällen keinen Puffer mehr gibt. Eigentlich würden Mitarbeiter nach einem langen Dienst oder wenn ein vorgegebenes Maß an Stunden überschritten worden ist, am nächsten Tag frei bekommen.
"Das können Sie aber nicht machen, wenn Sie der letzte Mohikaner sind. Dann kommen Sie selbstverständlich auch am nächsten Tag."
Drastische Sprache, schreiende Wahrheit
Im Buch wählt die Unfallchirurgin noch drastischere Worte und schildert – oft mit einem Wortwitz, bei dem das Lachen im Halse stecken bleiben kann – erschreckende Szenen. Etwa, wenn eine Aushilfsschwester dem Patienten mit dem Röntgengerät "die Eier verstrahlt", weil sie die Anweisung falsch verstanden hat und offenbar nicht weiß, dass das Körperverletzung ist. Alle Schilderungen, schreibt Sâra Aytaç, beruhten "auf der nackten, zum Himmel ‚Scheiße!‘ schreienden Wahrheit."
"Unfallchirurgie ist Handwerk – und das ist die Sprache, die dazu passt, wenn Menschen von Lkws überrollt werden oder die Knochen ins Sonnenlicht gucken."
Seit zwei Jahren arbeitet Sâra Aytaç im Klinikum in Idar-Oberstein. Mit gutem Gewissen, sagt sie. Auch hier schwimme man nicht im Personal, aber man helfe sich gegenseitig. "Es hat viel mit Organisation zu tun. Wir kriegen es hier gut hin. Aber in anderen Häusern läuft es nicht", sagt sie.
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Kliniken finden hierzulande kaum Ärzte
Die Klinikleitung in Idar-Oberstein schätzt Aytaç und ihre Arbeit. Sie hat der Unfallchirurgin in der Klinik ein Forum geboten, ihr Buch vorzustellen. Denn auch sie hält es für dringend, im Gesundheitswesen etwas zu verändern. Vor allem Personal zu gewinnen, sei eine riesige Herausforderung.
In Deutschland bekämen sie faktisch keine Ärzte mehr, sagt Ulrich Frey, der ärztliche Direktor. Viele Krankenhäuser seien deshalb auf Ärzte aus dem Ausland angewiesen. Die hätten allerdings häufig nicht die akademische Ausbildung, wie sie in Deutschland gefordert wird. Hinzu kommen Sprachprobleme, sagt Frey. Oft würden die Krankenhäuser die Sprachausbildung übernehmen müssen.
"Dann bringen wir ihnen das Fachliche bei, also eigentlich Aufgabe von Universitäten. Dabei wäre unsere Aufgabe, die Daseinsfürsorge im Hier und Jetzt zu leisten."
Für "schwer verständlich" hält es Ulrich Frey, dass die Plätze fürs Medizinstudium in Deutschland begrenzt seien, an den Krankenhäusern aber ein Riesenmangel bestehe. Auch Sâra Aytaç nennt es eine der wichtigsten Stellschrauben, sich vom Numerus clausus zu trennen: "Drei Telefonbücher in zwei Tagen auswendig lernen, macht nicht unbedingt den besten Arzt unter diesen Arbeitsbedingungen."
Kliniken schließen, um Personalmangel auszugleichen
Vor allem aber findet Sâra Aytaç, dass es zu viele Krankenhäuser und Krankenhausbetten gibt. Wären es weniger, könnte man das knappe Personal besser einsetzen. Der Krankenhausträger in Idar-Oberstein hat aus diesem Grund eine zwanzig Kilometer entfernte geriatrische Fachklinik ins Haupthaus integriert. Doch in ländlichen Regionen sind solche Schritte oft nicht populär. "Das hat in der lokalen Bevölkerung und in der Kommunalpolitik einen heftigen Aufschrei nach sich gezogen", sagt der ärztliche Direktor Ulrich Frey.
Die Schließung von Häusern hält man in der Klinikleitung für eine Abwägungsfrage. Kleine Häuser auf dem Land müssten schließlich auch Grund- und Regelversorgung leisten. Sâra Aytaç sieht einen möglichen Weg darin, manche in ambulante Therapiezentren umzubauen. Für weite Wege zur großen Klinik im Notfall könne der Rettungsdienst zusätzliche Hubschrauber bekommen.

Patienten mit falscher Anspruchshaltung
Aber auch die Anspruchshaltung der Patientinnen und Patienten hält Sâra Aytaç für ein Problem. Wer morgens um drei in die Notaufnahme komme, um von den Ärzten dort noch eine Drittmeinung einzuholen, müsse sich fragen, ob das nötig sei. Sie fordert mehr Selbstverantwortung bei den Menschen. Und sie hofft, dass ihr Buch auch Angst macht:
"Ich möchte, dass es ein Unwohlsein gibt bei jedem, der dieses Buch liest. Ich möchte, dass von der Bevölkerung viel mehr Druck gemacht wird, dieses Gesundheitssystem umzustrukturieren."
Wenn sich nichts ändere, würden immer mehr Leute das System verlassen und das Personal noch knapper. Sâra Aytaç warnt: "Die Steigerung von ausgeblutet ist ausgestorben".