"In der Stadt Trier können Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sich sicher im öffentlichen Raum bewegen."
Für viele blinde und sehbehinderte Menschen in Trier wirkt der Text des Aktionsplans Inklusion wie der reinste Hohn. Die Wirklichkeit, mit der sie täglich im Alltag konfrontiert sind, sieht anders aus, sagt Marion Palm-Stalp, die fast blind ist und sich in der Selbsthilfeinitiative "Pro Retina" engagiert.
"Eine vierspurige Straße am Moselufer überqueren zu wollen ist eine absolute Kamikazeaktion."

Blinde erleben Odyssee durch Trier
Sie schildert eine Erfahrung, die sie bei einem Ausflug mit blinden und sehbehinderten Menschen in Trier machte. Die Gruppe wollte an der Kreuzung am Martinskloster/Kaiser-Wilhelm-Brücke die Straße überqueren, um zum Zurlaubener Moselufer zu kommen.
Der Zebrastreifen ist dort nicht für Blinde ertastbar markiert, die Ampeln haben kein akustisches Signal, so dass Blinde sie überhaupt nicht bemerken können, sagt sie. Dazu noch der vierspurige Autoverkehr, der auch noch auf die Brücke abbiegen kann.

Es gibt noch viele andere Stellen, die für Menschen mit Sehbehinderung und Blinde gefährlich sind, sagt Marion Palm-Stalp. Ob am Hauptbahnhof, an der Kreuzung zur Porta Nigra oder an der Südallee, an der Ostallee und an unzähligen weiteren Stellen in der Stadt.

Stadt reagiert nicht auf Blindenkritik
Seit Jahren macht sie mit der Selbsthilfeinitiative Pro Retina auf die Missstände aufmerksam. Im Juni 2021 lud sie Triers Baudezernenten Andreas Ludwig zu einem Stadtrundgang durch die Trierer Innenstadt ein. Es ging um mangelnde Barrierefreiheit in Trier, um Ampeln, Wege, graue Poller ohne hell-dunkel Kontraste.
"Nichts ist seitdem passiert, im Gegenteil. Es sind Zebrastreifen weggekommen, die Ampeln sind nicht verbessert worden."
Sie sprach auch mit dem Behindertenbeauftragten der Stadt Trier, Gerd Dahm. Der sieht ein strukturelles Problem in der Stadtverwaltung und nennt ein Beispiel. Bei der Sanierung des Straßenpflasters in der Haupteinkaufsstraße der Stadt, der Simeonstraße, war ursprünglich nicht geplant, einen Streifen mit glatten Fliesen für Rollstuhlfahrer einzubauen.

Der Streifen in der Mitte der Fußgängerzone kam erst, nachdem der Behindertenbeauftragte bei der Stadt Trier Druck gemacht hat. Doch selbst dann ging noch etwas schief, denn die Markierung für Blinde und die kontrastreiche Gestaltung für Sehbehinderte wurde vergessen.
Koordinator für Barrierefreiheit müsste her
Das Amt des Behindertenbeauftragten ist ein Ehrenamt. Seine Aufgabe sei es, Rat und Verwaltung zu beraten, sagt er. Er sei aber nicht ins operative Geschäft der Verwaltung eingebunden, sei nicht im "Umlauf", wie es im Rathausjargon heißt. Der gute Wille sei bei der Trierer Stadtverwaltung aus seiner Sicht da, allerdings fehle Geld und Personal. Es sei ein strukturelles Problem in der Stadtverwaltung.
"Die Belange von Menschen mit Behinderung fallen oft hinten runter, im täglichen Geschäft, in dem Druck, der da ist, weil niemand verantwortlich ist, es ist ein Koordinationsproblem."

Ein Beispiel ist die Kreuzung Saarstraße-Südallee-Kaiserstraße. Die sollte eigentlich blindengerecht ausgestattet werden. Es geht um die Gesamtschau, sagt der Behindertenbeauftragte.
Die Oberflächen auf dem Bürgersteig müssten so gestaltet sein, dass sie mit dem Blindenstock ertastbar seien. Die Wege müssten für einen blinden Menschen wahrnehmbar, sicher und sinnvoll geführt sein, nicht im Zickzack und nicht so, dass sie plötzlich in einer Hecke enden.
Die akustischen und sensorischen Signale an den Ampelmasten müssten funktionieren. Im Trierer Baudezernat seien für Wegführung, Pflaster und Ampeln aber verschiedene Mitarbeiter zuständig.

"Wir haben in der Stadt Trier Ampeln mit Sensoren und Signalen, die jahrzehntealt sind, da gibt es schon keine Ersatzteile mehr."
Mehr Kompetenz in die Verwaltung
Dass es in der Stadtverwaltung grundlegende, strukturelle Änderungen geben muss, der Ansicht ist auch Wolf Buchmann. Er ist selbst blind und sitzt für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Trierer Stadtrat, ist für die Fraktion Sprecher beim Thema Inklusion.

An der Kreuzung Saarstraße-Südallee-Kaiserstraße wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, sagt er. Nicht funktionierende Blindenampeln, weil die Stromspannung nicht zum Ampelmodell passte, keine durchgehende ertastbare Markierung und keine gute Streckenführung. Er hat 2019 einen Ortstermin dort organisiert, die Fehler sind der Stadtverwaltung bekannt. Aber getan hat sich seitdem nichts.
"Bei dem Tempo, das wir in Trier haben, werden unsere Enkel noch nicht in einer barrierefreien Stadt wohnen können."
Gerade im Baudezernat müsste es fachlich kompetente Menschen geben, die sich bei jedem Projekt um die Barrierefreiheit kümmern, sagt Wolf Buchmann. Das sei aber nicht der Fall. Die Fluktuation beim Personal im Baudezernat sei enorm hoch, so gehe Wissen verloren.

Man habe es über viele Jahre mit Fortbildungen versucht, aber gesehen, es funktioniere so nicht. Ich glaube, alle sind guten Willens aber machen Fehler, sagt er. Strukturell brauche man Menschen, die sich systematisch um Barrierefreiheit kümmerten, die automatisch eingebunden würden.
"Es braucht SpezialistInnen, die sich regelmäßig darum kümmern, die in alle Planungsverfahren zwingend eingebunden sind, das ist die einzige Möglichkeit, wie das Problem zu lösen ist."
Die gesetzlichen Grundlagen sind eigentlich gut, sagt Wolf Buchmann. Barrierefreiheit ist in der Landesbauordnung verankert, es müssten sich eben nur alle immer daran halten. Einen Antrag im Stadtrat anzustoßen, die Blindenampeln im Stadtgebiet zu erneuern, so dass sie einheitlich sind und funktionieren, hätte aus seiner Sicht wahrscheinlich keinen Erfolg.

Dann werde von Seiten der Stadtverwaltung sicher gesagt, das sei ein wichtiges Anliegen, man habe dafür aber zur Zeit keine Kapazitäten, es sei kein Geld da, es sei kein Personal da, andere Projekte seien vorrangig.
Aktionsplan Inklusion der Stadt Trier nach 5 Jahren ausgelaufen
Beim Punkt barrierefreie Gestaltung der Trierer Innenstadt hat sich trotz des Aktionsplans Inklusion nicht viel getan, so die Einschätzung von Wolf Buchmann. Wenn sich nicht so viele blinde, gehörlose oder im Rollstuhl sitzende Menschen engagieren würden, hätte sich noch weniger bewegt, sagt er. Auch Marion Palm-Stalp, die bei Pro Retina etwa 200 blinde und sehbehinderte Menschen betreut, will nicht aufgeben. Es macht sie wütend, dass sich in Trier in Sachen Barrierefreiheit so wenig tut.

"Wer nimmt uns in unserer Gesellschaft wahr, mit den Bedürfnissen, die wir haben? Nämlich, dass wir gefahrlos eine Straße überqueren können."