ARD Diversitäts-Tag - Thema "Herkunft"

"Wurzellos" - Selbsthilfegruppe für adoptierte Menschen in Mainz

Stand

Von Autor/in Ilona Hartmann

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich zu wissen, woher sie kommen, wer ihre Eltern sind und wo ihre Heimat ist. Adoptierten oder auch Pflegekindern fehlt diese Sicherheit. Wir haben nachgefragt, was das mit ihnen macht.

Einmal im Monat trifft sich in Mainz die Selbsthilfegruppe "Wurzellos": Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht bei ihrer ursprünglichen Familie aufgewachsen sind. Drei von ihnen haben uns erzählt, welche besonderen Schwierigkeiten das mit sich bringt, welche Lücken sie empfinden und wie sie mit diesem außergewöhnlichen Schicksal umgehen.

Michele kam als Adoptivkind aus Vietnam nach Rheinhessen

Michele ist 27, eine junge Frau, die fröhlich und selbstbewusst wirkt. Im Alter von sechs Monaten war sie von einem Ehepaar aus der Nähe von Mainz adoptiert worden und ist in einem kleinen Ort in Rheinhessen groß geworden, zusammen mit einem ebenfalls adoptierten Bruder.

Es war ein behütetes Elternhaus, im Grunde fehlte Michele nichts. Aus der Adoption hatten ihre Eltern nie ein Geheimnis gemacht, auch das war irgendwie normal, erzählt sie. Trotzdem spürte sie irgendwann, dass sie Fragen hatte: Wo komme ich her? Wer sind meine leiblichen Eltern? Habe ich "echte" Geschwister? Und warum wurde ich weggegeben?

Als Teenager lernt Michele ihre leibliche Mutter kennen

Mit 12 Jahren wurden diese Fragen und Identitätsprobleme drängender. Bei einem Blick in den Spiegel neben ihrer Mutter wurde Michele plötzlich überdeutlich, dass sie anders war, anders aussah und sie wollte endlich Antworten. Ihre Adoptivmutter übergab ihr daraufhin einen Ordner, in dem Briefe und Fotos gesammelt waren. Denn tatsächlich hatte sie über Jahre den Kontakt zu Micheles biologischer Mutter gehalten.

Meine leibliche Mutter hat so geweint, so viel Schmerz habe ich noch nie bei einem anderen Menschen gespürt.

Als Michele 16 war, fuhr sie mit ihrer deutschen Familie nach Vietnam und lernte ihre leibliche Mutter und ihren leiblichen Bruder kennen. Michele erinnert sich noch genau, wie ihre Mutter auf sie zugelaufen kam und nicht aufhören konnte, zu weinen: "Das war so hochemotional, aber gleichzeitig auch sehr fremd und überfordernd. Ich selbst hatte keine Tränen in dem Moment."

Wurzeln erst durch leibliche Familie bekommen

Am nächsten Tag fuhren alle zusammen in das Dorf von Micheles vietnamesischer Familie, die dort in einer Blechhütte ohne fließendes Wasser lebt. Das zu sehen, machte Michele schlagartig klar, dass ihre Mutter sie aus einer Notsituation heraus weggegeben hatte und nicht, weil sie sie nicht haben wollte.

Von heute auf morgen waren alle meine Fragen geklärt und gelöst. Und all das, was ich vorher gespürt habe, dieses "Wo gehöre ich hin?" - war auf einmal nicht mehr da.

Für sie selbst war der Besuch heilsam. Die Fragen, die sie sich so lange gestellt hatte, waren plötzlich alle beantwortet. Heute beschreibt Michele ihre Herkunft so: "Meine Adoptivfamilie hat mir den Baum mit seinen Ästen gegeben. Aber die Wurzeln, die habe ich erst, seit ich meine leibliche Familie kennengelernt habe." Seit dem ersten Treffen war Michele noch zweimal in Vietnam, in diesem Juli wird sie ihre Familie dort erneut besuchen.

Sarah und Michele treffen sich regelmäßig in der Selbsthilfegruppe "Wurzellos" für adoptierte Menschen in Mainz.
Sarah und Michele treffen sich regelmäßig in der Selbsthilfegruppe "Wurzellos" für adoptierte Menschen in Mainz.

Sarah kam mit 13 in eine Pflegefamilie

Sarah ist 33 und die ersten Lebensjahre in ihrer leiblichen Familie aufgewachsen, mit Mutter und Schwester. Doch die Situation mit ihrer Mutter war sehr schwierig, mit 13 lief sie weg und kam in eine Pflegefamilie. Den Kontakt zu ihrer Mutter hielt sie nur, weil das Jugendamt das verlangte. Doch für Sarah waren diese Treffen purer Stress, deshalb musste sie irgendwann nicht mehr hingehen.

Mit 18 zog Sarah auch bei der Pflegefamilie aus und hat heute zu ihrer Pflegemutter kaum noch Kontakt, erzählt sie: "Es ist schwer, wenn die sich nie bei mir meldet und fragt, wie es mir geht. Sie schreiben mir eine Karte zum Geburtstag, aber das war es dann auch." Sarah überlegt, ob sie den Kontakt zu ihren Pflegeeltern überhaupt noch aufrecht erhalten soll.

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Kein Kontakt zu leiblicher Mutter

Später versuchte Sarah, wieder zu ihrer leiblichen Mutter Kontakt aufzunehmen. Aber die habe ihr immer nur Schuldgefühle gemacht. Deshalb hat die junge Frau entschieden, dass ihr der Kontakt nicht guttut, und ihn abgebrochen.

Ich wünsche mir so sehr eine Mama, diesen Rückhalt und diese Verlässlichkeit. Dieses Band, das man mit niemandem sonst so aufbauen kann, das fehlt. Und das tut schon weh.

Die 33-Jährige spürt oft, wie sehr ihr dieser Rückhalt und diese Verlässlichkeit fehlen, die man eigentlich von seinen leiblichen Eltern bekommen sollte. Natürlich habe sie Freunde, sagt Sarah. Aber diese besondere Verbindung, die man mit niemandem sonst hat, die fehlt ihr schon ihr Leben lang.

In Lolas Familie wurde die Adoption totgeschwiegen

Lola ist 46 und in Süddeutschland aufgewachsen - nach außen hin in einer perfekten Familie, sagt sie. Tatsächlich seien die Bedingungen traumatisch gewesen, ins Detail will sie dabei nicht gehen. Ihre leibliche Mutter war bei Lolas Geburt sehr jung, schon drei Tage nach ihrer Geburt war sie adoptiert worden. Doch darüber durfte in der Familie nicht gesprochen werden. "Das Thema Adoption war tabu."

Ich habe mich schon immer falsch gefühlt, wirklich wurzellos.

Schon mit acht Jahren hatte Lola ihre Eltern gefragt, ob sie adoptiert sei, weil sie sich immer "falsch", nicht dazugehörig fühlte. Daraufhin sagten die Eltern ihr und ihrer Schwester, dass beide von unterschiedlichen Müttern adoptiert worden seien. Doch danach durfte darüber nicht mehr gesprochen werden und die Mädchen durften auch niemandem davon erzählen.

"Das Thema Adoption war immer etwas sehr Negatives"

Für Lola war das schlimm, weil sie ganz viele Fragen hatte, über die sie mit niemandem reden konnte. Auch ihre Schwester, die ja in der gleichen Situation war, wollte das Thema lieber totschweigen. Für Lola war Adoption deshalb immer etwas Negatives.

Jahrelang habe ich meine Mutter gehasst, weil ich nicht verstehen konnte, wie man ein Kind weggeben kann. Ich dachte, dann sollte man es besser gar nicht bekommen.

Schon lange überlegt Lola, ob sie ihre leibliche Mutter kennenlernen möchte. Vermutlich könnte sie deren Identität und Adresse herausfinden: "Aber ich bin selbst so in Zweifel, ob ich das möchte", sagt sie. Jahrelang habe sie ihre Mutter gehasst, weil sie nicht verstehen konnte, warum sie sie weggegeben hat. Diesen Hass habe sie jetzt nicht mehr. "Ich glaube, ich kann gar nicht hassen", lacht Lola.

Lola überlegt, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen

Aber vor einem Treffen mit ihrer leiblichen Mutter hat sie nach wie vor große Angst, obwohl sie selbst schon so lange erwachsen ist: "Ich weiß gar nicht, was schlimmer wäre: Wenn ich sie ganz schrecklich finde oder wenn ich eine Verbindung spüre. Ich finde beides irgendwie eine gruselige Vorstellung."

Mit ihrer Schwester kann Lola mittlerweile über das Thema sprechen. Die hat ihre leibliche Mutter inzwischen kennengelernt und würde auch Lola bei dem Versuch unterstützen. Die Voraussetzungen sind also da und Lola sagt auch: "Ich bin jetzt 46, wer weiß, wie alt meine Mutter jetzt ist. Irgendwann rennt einem auch die Zeit davon, ich muss mich langsam mal entscheiden."

Selbsthilfegruppe "Wurzellos" in Mainz bringt Betroffene in Kontakt

Motivation schöpft Lola auch aus der Geschichte von Michele - zu sehen, wie gut es tun kann, wenn man endlich Antworten auf seine Lebensfragen bekommt. Das würde sie sich auch für sich selbst wünschen. Wahrscheinlich, sagt Lola, werde sie sich demnächst mal "vorsichtig rantasten".

Auch Sarah gibt die Selbsthilfegruppe Kraft. Es tue gut, mit anderen in Kontakt zu kommen - auch, um Strategien zu entwickeln, zum Beispiel, wie man mit Einsamkeit umgeht. "Und auch, was ich im Hier und Jetzt tun kann, um nicht immer in diesem Vergangenheitsgefühl festzuhängen."

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