Ein Junge kauert sich in der Ecke seines Zimmers am Fußboden sitzend zusammen. Bei dem Foto handelt es sich um ein Sujetbild. (Foto: dpa Bildfunk,  Nicolas Armer)

"Wir arbeiten im Krisenmodus"

Unterbesetzt: Beim Allgemeinen Sozialen Dienst in Mainz ist kein Streik drin

Stand

Die Gewerkschaft ver.di hat erneut zum Warnstreik aufgerufen. Eine Berufsgruppe in Mainz streikt nicht mit, weil sie das auf Kosten von Kindern tun würde.

Wenn die 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Mainz aufhören zu arbeiten und nicht mehr erreichbar sind, kann das im schlimmsten Fall tödlich enden. Einen Streik können sie sich deshalb moralisch nicht erlauben. Der Hintergrund: 20 von 40 Stellen im Allgemeinen Sozialen Dienst der Stadt Mainz sind aktuell unbesetzt. Die Abteilung gehört zum Jugendamt. Es mangelt an Fachpersonal.

Sozialarbeiter erstellen Hilfepläne für Familien

Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden dann tätig, wenn Familien Hilfe brauchen. Das kann der 12-jährige Sohn sein, der in einer schwierigen Phase ist oder sich zurückzieht. In solchen Fällen erarbeitet der Allgemeine Soziale Dienst einen Hilfeplan mit regelmäßigen Gesprächen. Das kann aber auch das 6-jährige Mädchen sein, das vom Vater geschlagen wird und sicherheitshalber aus der Familie genommen wird.

Auf knapp 60 Familien kommt eine Fachkraft

Die 34-jährige Stephanie Sippel ist seit einem Jahr Teamleiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst und engagiert sich bei der Gewerkschaft ver.di. Sie liebe ihre ungemein vielfältige Arbeit und die große Verantwortung, sagt die studierte Sozialarbeiterin. Immerhin helfe sie dabei, dass es Kindern besser gehe, sagt sie. Seit einigen Monaten aber habe sich der Job verändert. Statt der sonst üblichen 30 bis 35 Familien muss eine Fachkraft inzwischen fast 60 Familien betreuen.

Die Mainzer Sozialarbeiterin Stephanie Sippel. (Foto: privat)
Die Mainzer Sozialarbeiterin Stephanie Sippel ist seit einem Jahr Teamleiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst.

Sozialarbeit sollte präventiv sein

Von den Familien hört die 34-Jährige immer öfter: "Sie haben ja gar keine Zeit mehr!" Immerhin - in den meisten dieser Fälle müsse man sich um die Gesundheit der Kinder keine Sorgen machen, erzählt Stephanie Sippel. Noch nicht. Denn die Arbeit von Stephanie Sippel und ihren Kolleginnen und Kollegen ist eigentlich präventiv. Doch der Alltag sieht oft anders aus.

Wenn die Polizei anruft

Denn es gibt auch Notfälle, zu denen der Allgemeine Soziale Dienst ausrücken muss. Nämlich dann, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht. Und diese Fälle, berichtet ver.di-Mitglied Stephanie Sippel, würden zunehmen. Wenn der Kindergarten sich meldet, weil ein Kind angibt, geschlagen worden zu sein oder gar die Polizei anruft und von häuslicher Gewalt im familiären Umfeld spricht, dann muss die 34-Jährige los. Mit einer Begleitung sucht sie die Familie auf und versucht zu retten, was noch zu retten ist.

"Präventive Arbeit ist nicht mehr möglich - das ist eine Negativentwicklung."

Die 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Mainz bearbeiten mittlerweile fast nur noch solche Krisenfälle. Pausen gebe es kaum mehr, nachbearbeiten oder besprechen sei auch nicht mehr möglich. "Präventive Arbeit ist nicht mehr möglich", klagt Stephanie Sippel. Es komme sogar so weit, dass Familien warten müssten, die sich nicht in einer Krise befänden und lediglich Beratung suchten. Die Sozialarbeiter müssen priorisieren - eine Art Triage bei Familien. Die Vielschichtigkeit ihrer Arbeit, die sie einst so gereizt habe, sei fast völlig verschwunden. Stattdessen häuft die 34-Jährige Überstunden an.

Sozialarbeit wird unattraktiver

Egal, welche Probleme auftreten: Die momentanen Krisen wie der Krieg in der Ukraine oder Corona führen zu mehr Stress und Problemen in den Familien - und damit zu mehr Arbeit für den Sozialen Dienst. Der Job in der Sozialarbeit - ohnehin nicht gerade üppig bezahlt - wird dadurch nicht unbedingt beliebter bei Berufseinsteigern - ein Teufelskreis. Zumal die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen abwandern. Dabei benötigen laut Stephanie Sippel gerade Neueinsteiger in den Sozialarbeiter-Beruf Unterstützung.

Bewerbungsgepräche am Streiktag

Aber Hoffnung naht. In dieser Woche hat das Jugendamt in Mainz mehrere Bewerberinnen und Bewerber eingeladen, die das Team verstärken könnten. Stephanie Sippel ist zuversichtlich, dass sich die Arbeit in den Familien schon bald wieder auf mehr Schultern verteilt. Und dass der Job im Allgemeinen Sozialen Dienst in Mainz wieder das wird, was er für die Sozialarbeiterin lange war: abwechslungsreich und verantwortungsvoll.

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SWR