
SWR Aktuell: Herr Generalvikar Sturm, bei der katholischen Kirche geht’s derzeit richtig ans Eingemachte: Der sogenannte Synodale Weg will Reformen: Das Zölibat für Priester soll abgeschafft werden, das Priesteramt auch Frauen offenstehen und Homosexualität soll nicht mehr als Sünde gelten. Ist da eine Revolution im Gange?
Generalvikar Andreas Sturm: Es ist auf jeden Fall sehr viel in Bewegung! Ob es eine Revolution ist, weiß ich nicht. Da hat der Heilige Geist was mit in Bewegung gebracht. Viele Frauen und Männer haben schon ganz lange gespürt: So kann es nicht weitergehen! Und jetzt hat das Ganze mit dem "Synodalen Weg" einen Raum gefunden und dort machen sich Kleriker, Laien, Frauen, Männer gemeinsam auf den Weg. Das finde ich sinnvoll, wichtig und richtig.
SWR Aktuell: Was muss sich aus Ihrer Sicht in der katholischen Kirche ändern?
Sturm: Der große Auslöser war natürlich der Missbrauchsskandal. Was da Kindern hunderttausendfach angetan wurde, hat ganz viel in Bewegung gebracht. Da ist deutlich geworden: Wir haben Probleme, die haben nicht mit einem einzigen Täter zu tun, sondern die sind systemisch. Deswegen muss man das ganze System betrachten! Wir haben viele Punkte, wo wir als Kirche immer Lösungen gesucht haben, um den Mangel zu verwalten.
SWR Aktuell: Was heißt das genau?
Sturm: Wir merken, wir haben zu wenig unverheiratete Männer, die Priester werden wollen. Die Folge ist: Wir machen die Pfarreien immer größer - aber Seelsorge braucht Nähe zum Menschen und vieles bleibt jetzt auf der Strecke. Wir erleben, dass Frauen sich berufen fühlen. Sie sagen, sie spüren ganz klar, dass Gott einen Plan für ihr Leben als Priesterin oder Diakonin hat. Wir haben das die ganze Zeit negiert. Aber diese Frauen sind doch da, mit ihrer Geschichte, mit ihrer Berufung! Deswegen finde ich es gut und richtig, dass wir da hinhören und etwas verändern.
SWR Aktuell: Zurück zum Zölibat: Leiden denn viele Priester im Bistum Speyer darunter?
Sturm: Viele leiden darunter, dass sie alleine sind. Sie spüren, dass so, wie sie ihr Leben gestalten müssen, das nichts ist, was sie befreit und was Leben in einer guten Weise möglich macht. Es wird einige geben, die sich eine Beziehung zu einer Frau wünschen, einige, die sich eine Beziehung zu einem Mann wünschen. Und es gibt sicherlich auch Priester, die ganz glücklich und zufrieden sind. Wir haben am Schluss sicherlich nicht nur noch verheiratete Priester, sondern wir haben sehr unterschiedliche Charaktere und deshalb brauchen wir unterschiedliche Lösungen.
SWR Aktuell: Im Prinzip geht’s um die Freiheit, das selbst entscheiden zu können, wie man leben will. Auch wenn man homosexuell leben will?
Sturm: Ja. Wir müssen von dieser Angst wegkommen, die Menschen daran hindert, wirklich befreit leben zu können! Das hat uns ja nochmal dieser großartige Filmbeitrag in der ARD #OutInChurch vor Augen geführt, wo diese mutigen Männer und Frauen auch von ihrer Angst berichtet haben, die sie jahrzehntelang gequält und auch gehemmt hat.

SWR Aktuell: In dem ARD-Film ging es um das Coming Out von Mitarbeitern der katholischen Kirche. Denn bislang riskierten lesbische Erzieherinnen oder schwule Pastoralreferenten ihren Job, wenn sie sich outeten. Wie geht das Bistum Speyer damit um?
Sturm: In den vier Jahren als Generalvikar habe ich keine Kündigung ausgesprochen, weil jemand gegen eine sogenannte Loyalitätsverpflichtung verstoßen hat. Was in den Schlafzimmern meiner Mitarbeitenden passiert - solange es sich um Erwachsene handelt und die das aus freien Stücken tun -, geht mich als Dienstvorgesetzter nichts an. Aber wir brauchen eine Lösung, die losgelöst ist vom jeweiligen Bistum und die rechtlich sicher ist. Damit Frauen und Männer, die homosexuell leben wollen und queer sind, einen sicheren rechtlichen Rahmen finden.
SWR Aktuell: Abschaffung des Zölibats, Frauen ins Amt, Homosexuelle outen sich - das hört sich ja schon nach einem tiefgreifenden Wandel an.
Sturm: Ich will ja nicht zu optimistisch sein. Wir haben da noch die Frage: Was macht Rom? Die katholische Kirche ist ja nicht nur die Ortskirche in Speyer, in Deutschland oder der Vatikan in Rom. Das sollte ein Thema werden, bei dem sich die ganze Kirche weltweit zu Wort meldet. Da braucht es ein richtiges Konzil, um diese Fragen anzugehen. In der katholischen Kirche sind wir an einem Punkt, wo man diese Fragen angehen muss!
SWR Aktuell: Das größte Thema der katholischen Kirche sind die Missbrauchsfälle. Das Bistum plant, eine eigene Studie in Auftrag zu geben. Was genau soll untersucht werden?
Sturm: Die Studie 2018 hat ja die Personalakten der jeweiligen Täter in den Blick genommen. Und jetzt muss es um das institutionelle Versagen gehen. Was haben Generalvikare, Personalchefs, Bischöfe gewusst? Haben sie - im Wissen, dass jemand Täter ist -, ihn von der einen Pfarrei in die andere versetzt? Hat man versucht, die Taten zu decken? Hat man versucht, staatliche Behörden auszutricksen, damit es nicht zu einer Gerichtsverhandlung kommt? Diese Fragen gilt es anzugehen. Kein schönes Thema, aber wir können das Thema erst abschließen, wenn wir die Vergangenheit ehrlich und vollumfänglich angeschaut haben.
SWR Aktuell: Bundesweit gab es 2020 mehr als 200.000 Kirchenaustritte in der katholischen Kirche. Lässt sich das Ruder herumreißen, wenn sich die Kirche reformiert?
Sturm: Wir brauchen wieder den Anschluss an die Welt von heute. Wir brauchen wieder eine Lehre, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen in Einklang ist. Sonst hat Kirche nichts mehr zu sagen, dann spielt auch dieser Jesus Christus und seine Botschaft im Leben der Menschen überhaupt keine Rolle mehr. Und wenn wir die Vergangenheit aufarbeiten, dann kann die Botschaft, die wir zu verkünden haben, auch bei den Leuten ankommen. Aber das ist noch ein weiter Weg. Jetzt müssen wir erstmals die wichtigen Themen anpacken.
SWR Aktuell: Wie geht es Ihnen persönlich damit?
Sturm: Ich glaube, wir haben nicht viel Zeit. Ich will meinen Beitrag leisten - aber auch nicht um jeden Preis. Also, wenn ich den Eindruck habe, man beißt sich nur die Zähne aus, dann kann es für mich - zumindest an der Position, an der ich jetzt bin -, nicht weitergehen. Ich erlebe auch, wie viele Menschen in dieser Kirche leiden – bei den Betroffenen von sexualisierter Gewalt, bei Frauen und Männern, vor allem Frauen, die in dieser Kirche den Eindruck haben, sie werden nicht gehört, ihre Stimme und ihre Berufung zählen nicht. Als Generalvikar bin ich auch das Gesicht dieser Kirche. Ignorieren geht nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es für mich weitergeht. Alle Themen - bis auf die Homosexualität - waren schon mal da. Und es ist nichts passiert. Und das könnte ich jetzt nicht ertragen. Ich bin noch nicht an dem Punkt zu sagen: Ich schmeiß das Handtuch. Aber dieser Druck ist nicht einfach zu ertragen.
Zur Person: Andreas Sturm ist als Generalvikar der Verwaltungschef des Bistums Speyer. Der 47-Jährige wurde 2002 zum Priester geweiht und ist Stellvertreter des Speyerer Bischofs Karl-Heinz Wiesemann. Sturm hat sich mit der Segnung homosexueller Paare gegen den Vatikan in Rom gestellt.