Nach der Flut im Ahrtal hat das Land Rheinland-Pfalz im Dezember 2021 das Traumahilfezentrum in Grafschaft-Lantershofen eröffnet - es soll eine Anlaufstelle für Menschen sein, die durch ihre Erlebnisse traumatisiert wurden, aber auch für alle Helfer. Es wird von der Trauma-Therapeutin Katharina Scharping geleitet.
SWR: Frau Scharping, wie geht es den Menschen, die zu Ihnen ins Traumahilfezentrum kommen?
Dr. Katharina Scharping: Es geht ihnen sehr schlecht. Wir haben nicht damit gerechnet, dass alle Menschen, die zu uns kommen, so belastet sind. Sie haben in irgendeiner Form die Flutnacht erlebt. Meistens sind sie entweder mit ihrem Gebäude oder auch mit dem Verlust von Angehörigen betroffen. Sie haben Schlafstörungen, Ängste oder sind depressiv. Sie grübeln und erinnern sich immer wieder an die Nacht.
SWR: Merken Sie in Ihrer Arbeit jetzt einen Unterschied im Vergleich zu der Anfangszeit? Was hat sich in den vergangenen sechs Monaten geändert?
Scharping: In den ersten drei Monaten waren die Menschen damit beschäftigt, die Schäden an ihren Häusern und die Verluste zu bewältigen. Da haben noch nicht viele Menschen Hilfe gesucht. Jetzt kommen die Leute zur Ruhe und fangen an zu spüren, was sie alles verloren haben oder wie viel Angst sie hatten. Dazu kommt dann die dunkle Jahreszeit. Die Leute sind einfach total erschöpft.
SWR: Sie beraten und helfen zum Beispiel bei der Vermittlung einer Therapie, wenn das nötig ist. Wie läuft so eine Trauma-Therapie ab?
Scharping: Das Ziel ist, dass man das, was man in der Notfallsituation nicht sortiert und nur bruchstückhaft gespeichert hat, ordnet und im Zusammenhang im Gedächtnis ablegt. Dann ist klar, dass es eine Erinnerung ist und nicht die Gegenwart. Und man kann sich aussuchen, ob man sich daran erinnert und sich damit beschäftigt oder eben erstmal nicht.
SWR: Wie kann das denn gelingen?
Scharping: Sich diesem Ereignis zu stellen, ist eine schwierige Situation. Die Betroffenen müssen sich dafür stärken. In einer Therapie lernen sie zunächst Techniken, wie sie sich entspannen oder wie sie besser schlafen können. Die Betroffenen lernen Techniken, um sich abzulenken oder um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu fokussieren. Wir unterstützen die Leute darin, dass sie sich bewusst machen, was ihre Stärken sind, wo sie Kontrolle über ihr Leben haben, sodass sie sich gut gerüstet und gestärkt wieder diesem Ereignis stellen können.
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SWR: Wie sieht dann die anschließende Konfrontation mit dem Erlebten aus?
Scharping: Da gibt es verschiedene Wege. Man kann zum Beispiel nochmal von den Erlebnissen erzählen. Das ist auch mit verschiedenen Reizen möglich, wie zum Beispiel Regen. Viele Menschen haben jetzt Angst bei Regen oder wenn sie duschen. Da geht es dann darum, sich dem zu stellen und dem Gehirn beizubringen, dass es normaler Regen ist, vor dem man keine Angst haben muss.
SWR: Was gibt es noch für Methoden, die in einer Therapie angewendet werden?
Scharping: Es gibt zum Beispiel die sogenannte EMDR-Methode. Wenn abwechselnd die linke und die rechte Gehirnhälfte aktiviert wird, hat das eine extrem beruhigende Wirkung. Dadurch lassen sich die Gedächtnis-Spuren neu überschreiben. Zum Beispiel kann man abwechselnd mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht des Patienten entlanggehen, der dann wechselnd nach links und rechts guckt. Dann tritt im Gehirn eine Beruhigung ein. Wenn man dann dazu daran denkt, was man Schlimmes erlebt hat und parallel diese Gehirnhälften wechselseitig aktiviert werden, lernt das Gehirn diese Gedächtnis-Spur zu überschreiben. So kann zum Beispiel das Gefühl der Lebensgefahr überschrieben werden. Das ist eine relativ effektive Möglichkeit, sowas zu behandeln.
SWR: Was passiert eigentlich im Körper, wenn ein Mensch so eine Katastrophe erlebt?
Scharping: Die Fluten können wir ganz sicher als traumatisches Ereignis definieren. Das ist etwas, dass lebensbedrohlich ist, entweder für einen selbst oder für jemand anderen. Dann geht in uns sofort ein Notfall-Programm an. Da kann man flüchten, kämpfen oder sich totstellen. Das sind die drei Mechanismen in Notfällen, die uns zur Verfügung stehen. Es gibt Menschen, die in der Nacht in die oberen Stockwerke geflüchtet sind. Andere sind fatalerweise zu ihren Autos gerannt, um mit ihnen zu flüchten. Wieder andere sind in die Fluten gesprungen und haben gekämpft, um Angehörige zu retten. Manche standen einfach versteinert in der Ecke. Im Prinzip ist das erstmal gut, weil man in der Situation damit überleben kann. So ging es für viele Menschen auch weiter. Sie haben funktioniert, zum Teil über ein paar Monate.
"Es ist normal, dass ich wegrennen will, wenn mein Leben bedroht ist. Mein Gehirn hat es nur noch nicht verstanden, dass die Gefahr jetzt wieder vorbei ist."
SWR: Was macht es dann später aber so schwierig mit der Situation umzugehen?
Scharping: Wir können das Ereignis nicht geordnet abspeichern. Das Gedächtnis speichert die Erlebnisse in einer Hauruck-Aktion irgendwo ab. Und dann bleiben diese Sinneseindrücke im Gehirn und können jederzeit wieder raus springen. Das führt dann dazu, dass man plötzlich wieder das Wasser rauschen hört, oder dass man plötzlich vor Schreck erstarrt und nicht weiß warum. Dass man ganz dünnhäutig ist, schnell anfängt zu weinen oder schnell in Streit gerät. Tatsächlich ist es hilfreich, dann zu wissen, dass es eine normale Reaktion ist. Es ist normal, dass ich wegrennen will, wenn mein Leben bedroht ist. Mein Gehirn hat es nur noch nicht verstanden, dass die Gefahr jetzt wieder vorbei ist.
SWR: Merken Sie in Ihrer Arbeit Unterschiede zwischen den Generationen?
Scharping: Ältere Leute und Männer tun sich prinzipiell schwerer, Hilfe anzunehmen oder aktiv Hilfe aufzusuchen. In älteren Generationen ist das noch mit Scham besetzt. Anders bei jüngeren Erwachsenen. Da ist eine psychische Erkrankung weniger ein Stigma, sondern eher was, über das man vorher schon gesprochen hat. Dementsprechend können jüngere Menschen leichter Hilfe in Anspruch nehmen.
SWR: Wie sieht die Hilfe bei Kindern aus? Die können sich ja häufig nicht wirklich äußern.
Scharping: Kinder haben oft eher körperliche Symptome oder Verlustängste, Schlafstörungen oder trauen sich auch nicht raus, manche fangen wieder an sich einzunässen. Und auch da geht es darum, dem Kind erstmal wieder möglichst viel Sicherheit zu geben. Einen Alltag zu schaffen, mit Routinen und Ritualen. Und dann das Kind zu ermutigen, sich langsam auch wieder ein bisschen mehr zu trauen, sich ein bisschen mehr vor die Tür zu wagen.
SWR: Wie sollte ich als Angehöriger mit einem Verwandten oder Bekannten umgehen, der so eine Katastrophe erlebt hat?
Scharping: Am besten, indem Sie freundlich zuhören und einfach für die Person da sind. Da kann man gar nicht viel falsch machen. Und wenn er in Ruhe gelassen werden will, dann sollten Sie den Angehörigen in Ruhe lassen. Wenn er reden will, sollten sie zuhören.
SWR: Ist es schlimm, wenn Betroffene die Erinnerungen an die Nacht verdrängen?
Scharping: Im Prinzip ist Verdrängung ein gesunder Mechanismus, um irgendwie den Kopf über Wasser halten zu können. Die Gefahr ist aber, dass es einen irgendwann doch einholt. Wir erleben das jetzt zum Beispiel bei der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Die haben auch eine kollektive Traumatisierung erlebt und ganz viele davon sind gut damit klargekommen. Und dann im Alter, in Situationen, wo sie plötzlich wieder ohnmächtig ausgeliefert sind, kriegen sie Symptome der Traumatisierung. Außerdem gibt es viele Menschen, die das dann auch zum Beispiel mit Alkohol versuchen zu verdrängen. Dann entstehen ganz neue Probleme.
SWR: Trotzdem braucht nicht jeder Mensch im Ahrtal eine Therapie. Dennoch ist die Situation noch immer belastend. Welche Möglichkeiten gibt es, mit dieser Belastung klarzukommen, abseits einer Therapie?
Scharping: Man sollte das tun, wobei man sich wohl fühlt. Zum Beispiel in der Gesellschaft netter Menschen sein, ausreichend essen und schlafen, angenehme Dinge unternehmen. Das ist wichtig. Viele sagen auch, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie etwas Schönes machen. Sie denken, man dürfte sich gar nicht freuen, wenn alles um sie herum so schrecklich ist. Das Gegenteil ist der Fall: Umso mehr schöne und angenehme Dinge man erlebt, umso leichter kann man auch so etwas wieder verarbeiten.