Telefonseelsorge der Pfalz registriert bei 40 Prozent der Beratungschats äußern die Jugendlichen Suizid-Gedanken (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / ROBIN UTRECHT | ROBIN UTRECHT)

Welche Lehren Betreuende, Beratungsstellen und die Politik ziehen

Auch 2022 ein Problem: Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche in RLP

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Jeanette Schindler
David Kirchgeßner
David Kirchgeßner ist Redakteur bei SWR Aktuell in Rheinland-Pfalz. (Foto: SWR)

Nach zwei Jahren Corona leiden Kinder und Jugendliche immer noch besonders. Soziale Ungleichheiten und psychische Probleme wurden in der Pandemie verstärkt. Die Politik sucht nach Lösungen, ein Kinderpsychiater warnt für den Herbst vor Maßnahmen mit verheerenden Folgen.

Kinderarzt: Mehr Notfälle und mehr suizidales Verhalten

"Wir sehen in der Pandemie mehr krisenhafte Zuspitzungen und kränkere Patienten", sagt Günther Stratmann, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Standort Klingenmünster. 2018 seien noch rund 50 Prozent der behandelten Fälle Notaufnahmen - beispielsweise wegen Eigen- oder Fremdgefährdung - gewesen, 2022 dagegen 70 Prozent.

Auch bei der evangelisch-katholischen TelefonSeelsorge der Pfalz geht es nach eigenen Angaben inzwischen in 40 Prozent der Beratungschats mit Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren um das Thema Suizid. 70 Prozent der Jugendlichen, die dort Rat suchten, seien Mädchen.

Ein Telefonseelsorger berichtet

"Der Anteil an Chats junger Menschen mit dem Thema 'Suizidalität' ist mit bis zu 40 Prozent deutlich höher als im Durchschnitt aller Altersgruppen (21 Prozent).“

Woher kommt diese große Verzweiflung bei Jugendlichen, wo gefühlt doch das Gröbste in der Corona-Pandemie überstanden scheint? "Wenn auf dem Rhein ein großes Schiff durchfährt, gibt es auch erst danach den Sog und die Wellen", meint Peter Annweiler aus dem Leitungsteam der TelefonSeelsorge.

Ängste, Einsamkeit und Suizidalität - das seien die Themen, die Jugendliche am häufigsten ansprächen. Oft würden Problem thematisiert, die es zwar auch schon vor Corona gab: Etwa Streit mit den Eltern, häusliche Gewalt, Mobbing oder Leistungsdruck in der Schule.

Neue Krisen belasten den Nachwuchs

"Aber manche Auswirkungen der Corona-Maßnahmen zeigen eben erst jetzt ihre Folgen", so Annweiler. Dazu kämen die vielen neuen Krisen als Belastung - vom Krieg in der Ukraine bis zum Klimawandel.

"In welcher prekären gesellschaftlichen Situation wir stecken, zeigt sich für mich aber darin, wenn ich sehe, wie Kinder und Jugendliche verzweifelt auf einen Termin beim Therapeuten warten und wieder allein gelassen werden", sagt Annweiler.

Das fordern Schüler und Schülerinnen

Das kritisiert auch Colin Haubrich, Sprecher der Landesschüler:innenvertretung Rheinland-Pfalz. Die Corona-Maßnahmen hätten Schülerinnen und Schüler besonders hart getroffen, das sei aber nie aufgearbeitet worden. An den Schulen gäbe es weder genügend Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, noch würden Betroffene rechtzeitig eine Therapie bekommen, so Haubrich.

"Nach dem Lockdown wurde vor allem Leistung gefordert und gar nicht nachgefragt, wie es den Jugendlichen geht. Der richtige Schritt wäre aber gewesen, den Lehrplan auszudünnen und erst mal über das, was geschehen war, in der Schule zu sprechen."

Dieser extreme Leistungs- und Notendruck mache vielen zu schaffen. Dazu kämen die vielen anderen Krisen. "Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine, die Sorge um die Gasversorgung oder der Klimawandel. Man kann gar nicht mehr durchatmen", klagt auch Haubrich.

So ging es Kita-Kindern in der Pandemie

Motorische Auffälligkeiten, Unsicherheiten beim Umgang mit anderen Kindern und Verschärfung bestehender Probleme - davon berichtet Claudia Theobald vom Verband KiTa-Fachkräfte Rheinland-Pfalz. "Bei Kindern und Familien, die mit besonderen Belastungen und Herausforderungen zu kämpfen haben oder deren Kinder beispielsweise sehr sensibel sind, Entwicklungsverzögerungen aufweisen oder ADHS haben, hat die Pandemie die Probleme häufig verschärft", sagt Theobald.

Das bestätigt auch Kinder- und Jugendpsychiater Stratmann: "Es haben nicht alle gelitten. Die Kinder und Jugendlichen mit besseren Voraussetzungen hatten keine Probleme. Die mit Problemen, haben jetzt größere." Doch dass dieser Mangel behoben wird, dafür wird aus seiner Sicht derzeit zu wenig getan.

So reagiert die Politik in RLP

Die Bildungspolitische Sprecherin der Grünen in Rheinland-Pfalz, Pia Schellhammer, erklärte, besonders Kinder armer Familien hätten unter der Pandemie gelitten. Die Grünen wollen deshalb eine strukturelle Armutsbekämpfung. Mit der vom Bund geplanten Kindergrundsicherung könnten viele Familien wieder handlungsfähig werden. Außerdem fordern die Grünen, dass es in Zukunft keine Kita- und Schulschließungen mehr geben dürfe und Jugendliche stärker beteiligt werden sollen.

Wie eine Jugendstudie des Landes zeigt, wünschen sich zwei Drittel der teilnehmenden Jugendlichen auch mehr Mitspracherecht. Das soll unter anderem mit einem Jugendbeirat auf Landesebene ermöglicht werden, so die Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen zu den Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche. Bestehende schulische Unterstützungsangebote sollen zudem weiterhin "bedarfsgerecht ausgebaut" und das Bundesprogramm "Aufholen nach Corona" fortgesetzt werden.

CDU: Landesregierung zu spät dran

Die CDU-Fraktion kritisierte am Dienstag, dass die Landesregierung viel zu spät die Weichen gestellt habe, um coronabedingte Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche abzufangen. "Lerndefizite, fehlende soziale Kontakte und Strukturen sowie Vernachlässigung haben ihre Spuren hinterlassen", sagte die Obfrau im Bildungsausschuss, Jenny Groß.

Familien alleine könnten diese Probleme nicht lösen. So müsse das Land die Kommunen bei der Kinder- und Jugendhilfe deutlich mehr unterstützen. Dazu gehöre auch die Einstellung von mehr Fachkräften in der Schulsozialarbeit und der schulpsychologischen Beratung.

Was bringt der Herbst?

Für den Fachkräfteverband ist auch im neuen Kita-Jahr laut der Fachkräfteverbandsvorsitzenden Theobald noch kein Land in Sicht. "Da es in Kitas so gut wie keine Corona-Maßnahmen gibt, die effektiv vor Ansteckung schützen, sehen wir nicht gerade optimistisch in den nächsten Herbst und Winter."

Welche Schutzmaßnahmen dann kommen, die auch Kinder und Jugendliche betreffen, macht die Landesregierung in ihrer Antwort auf die Grünen-Anfrage von der Entwicklung des Infektionsgeschehens und der neuen Fassung des Infektionsschutzgesetzes abhängig. "Es bleibt der Wille, der Landesregierung, Schul- und KiTa-Schließungen zu vermeiden", heißt es.

Kinderarzt Stratmann sagt: "Ich kann nur hoffen, dass nicht noch mal solche Lockdownmaßahmen für Kinder und Jugendliche kommen. Das wäre verheerend."

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