Rettungskräfte im Dienst an der Ambulanz am Klinikum Stuttgart (Foto: IMAGO, Lichtgut)

Notfallversorgung vor Verwaltungsgerichtshof

Rettungsdienstplan in Baden-Württemberg rechtswidrig?

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Johannes Schmid-Johannsen
Johannes Schmid-Johannsen (Foto: SWR)
Nico Heiliger
Nico Heiliger (Foto: SWR)

Intransparente, undemokratische und fragwürdige medizinische Vorgaben? Gegen den neuen Rettungsdienstplan der Landesregierung ziehen Notärzte und Kommunalpolitiker vor den Verwaltungsgerichtshof. Das sind die Vorwürfe.

Seit Jahren leidet der Rettungsdienst in Baden-Württemberg an einer systematischen Unterversorgung. Die Einsatzzahlen steigen Jahr für Jahr. Die Digitalisierung kommt nur wenig voran. Bei nahezu allen Hilfsorganisationen fehlt es an ausreichend Personal. Mit der Folge, dass der Rettungsdienst bei zu vielen Einsätzen nicht in der gesetzlich vorgegebenen Zeit eintrifft. Nur fünf von 35 Rettungsdienstbereichen im Land konnten 2021 die gesetzlichen Zielvorgaben erreichen. Eine Gruppe von Mannheimer Bürgern, die überwiegend als Notärzte im Rettungsdienst oder in der Kommunalpolitik tätig sind, zieht dagegen jetzt vor Gericht.

Grundsatzklage vor dem Verwaltungsgerichtshof

Die Gruppe hat eine Normenkontrollklage beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim eingereicht. Das Gericht soll klären, ob Regelungen der Notfallversorgung Grundrechte verletzen. Konkret beanstanden die Kläger, dass der Rettungsdienstplan und einzelne Beschlüsse zum Rettungsdienst rechtswidrig seien.

"Anstatt mit Taschenspielertricks zu hantieren, wäre das Innenministerium gut beraten, endlich die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben von der Selbstverwaltung einzufordern."

Vier zentrale Kritikpunkte nennt die Klägergruppe:

  • Die Kompetenzen der Selbstverwaltung würden zu weitreichend ausgedehnt.
  • Die sogenannte Hilfsfrist werde zu großzügig und damit nicht gesetzeskonform ausgelegt.
  • Durch die Streichung der Hilfsfrist für Notärzte sei die angemessene medizinische Versorgung im Notfall gefährdet.
  • Und überhaupt fehle im System der Notfallversorgung eine fachliche medizinische Aufsicht.

Umfassende Klageschrift eingereicht

Mehr als 300 Seiten haben die Kläger zusammengetragen, um darzulegen, was ihrer Ansicht nach nicht rechtens ist. Die Normenkontrollklage richtet sich gegen das Land und gegen den Landesausschuss für den Rettungsdienst. Denn einen Großteil der Verantwortung für die Notfallversorgung hat das Land aus der Hand gegeben: an die sogenannte Selbstverwaltung. Der Staat überlässt dabei die Organisation der Notfallversorgung den Leistungsträgern und Leistungserbringern im Rettungsdienst. Auf Landesebene beruft das Innenministerium beispielsweise Vertreter von den Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Maltesern einerseits und den Krankenkassen andererseits in den Landesausschuss. Diese entscheiden dann wesentliche Fragen. Das kritisieren die Kläger. Wo Rettungswachen entstehen, wie viele Rettungswagen benötigt werden, wie also die Notfallversorgung in den Kommunen ausgestaltet wird - das bestimmten nicht die demokratisch gewählten Kreis- oder Gemeinderäte, sondern Gremien, die weder demokratisch legitimiert seien, noch kontrolliert würden, so die Kläger.

Intransparentes "System" beim Rettungsdienst

Der Landesausschuss ist ein besonderes Gremium: Zwei Mal pro Jahr tagt er nicht öffentlich, sogar streng vertraulich. Teilnehmende dürfen nichts aus den Sitzungen nach außen tragen. Seine Mitglieder werden zwar vom Innenministerium namentlich benannt. Trotzdem darf keiner wissen, wer die Auserwählten sind. Lediglich eine Liste der vertretenen Hilfsorganisationen und Krankenkassen händigt das Ministerium aus. Als Grund führt das Innenministerium den Schutz personenbezogener Daten an. Für die Initiatoren der Klage ist es...

"...unverantwortlich, dieser Selbstverwaltung, die ohne jegliche demokratische Legitimation handelt, weitgehende - auch medizinische - Befugnisse einzuräumen".

Bestimmt der Landesausschuss für den Rettungsdienst Rechtsverordnungen?

Der Landesausschuss fasst Beschlüsse zum Rettungsdienst, die zwar vom Vertreter des Innenministeriums durch ein Veto gestoppt werden könnten. Aber die meisten so entstehenden Vorschriften sind so etwas wie das landesweit gültige Regelwerk für den Rettungsdienst. So heißt es im neuen Landesrettungsdienstplan auch:

"Die Beschlüsse des Landesausschusses für den Rettungsdienst binden die Leistungs- und die Kostenträger."

Die Klägergruppe argumentiert daher, dass Beschlüsse des Ausschusses die Rechte der Kommunen beschneiden würden. Sie sehen die Verantwortung für die Gefahrenabwehr – dazu gehört der Rettungsdienst - bei den Städten, Gemeinden und Landkreisen. Im Gegensatz zum Landesausschuss für den Rettungsdienst seien deren Gremien zudem demokratisch legitimiert und kontrolliert, so das Argument der Kläger.

Landesweites Gutachten für den Rettungsdienst

Ein weiterer Streitpunkt ist die künftige zentrale Planung. Denn auf Grundlage des neuen Rettungsdienstplanes hat der Landesausschuss für den Rettungsdienst in seiner jüngsten Sitzung im September ein landesweites Strukturgutachten beschlossen. Das gab es bislang noch nie. Laut diesem Beschluss, der dem SWR in der ersten Protokollierung vorliegt, sollen die regionalen Bereichsausschüsse vor Ort bis auf Weiteres keine Veränderungen mehr vornehmen:

"Lokale Begutachtungen werden […] durch die örtlichen Bereichsausschüsse für den Zeitraum der landesweiten Begutachtung und dessen Umsetzung nicht veranlasst. RTW-Vorhalterweiterungen und andere die RTW-Vorhaltung in den Rettungsdienstbereichen betreffende Maßnahmen werden […] nicht veranlasst."

Mit anderen Worten: Solange auf Landesebene am Gutachten gearbeitet wird, sollen bis auf Weiteres auf Landkreisebene keine neuen Rettungswagen oder Rettungswachen entstehen.

Ausbau von neuen Rettungswachen erstmal gestoppt

Zwar können vor Ort bereits beschlossene Maßnahmen noch umgesetzt werden, aber nur unter zwei Bedingungen: Es dürfen keine neuen Rettungswachen entstehen. Und Maßnahmen dürften höchstens die Einhaltung der maximalen Hilfsfrist von 15 Minuten verbessern. Der Beschluss wirkt damit wie eine Pause-Taste für die Optimierung des Rettungsdienstes im Land. Die Klägergruppe befürchtet daher:

"Die Möglichkeit einer landesweiten Begutachtung der bodengebundenen Notfallrettung wird absehbar zu einem Stillstand führen, der die Notfallversorgung im Land gefährdet."

Bisher keine Erfahrung mit einem landesweiten Gutachten

Dabei spricht nichts generell gegen eine landesweite Planung. Frühere Datenanalysen des SWR hatten belegt, dass durch die kleinteilige, regionale Planung Randbereiche entstehen, die besonders schlecht versorgt werden. Das Problem liegt für die Kläger eher darin, dass in der Zwischenzeit erkannte Defizite im Rettungsdienst nicht behoben werden dürfen. Außerdem hat das Land bislang keine gute Figur bei übergreifenden Planungen gemacht. Bis ein landesweites Gutachten über die richtigen Standorte für Rettungshubschrauber vorlag und auch in die Umsetzung kam, war viel Zeit vergangen. Darin ging es um weniger als zehn Standorte. Die landesweite Planung für den gesamten Rettungsdienst umfasst dagegen rund 190 Notarztstandorte sowie etwa 320 Rettungswachen mit über 450 Rettungswagen (Quelle: SQR BW). Ein solches Gutachten hat im Land bislang noch nie jemand durchgeführt. Die Initiatoren befürchten, dass es nicht innerhalb von zwei Jahren, wie geplant, fertig werde. Und bis dahin passiere dann erstmal nichts.

Rechtmäßigkeit wird überprüft

Die Klage am Verwaltungsgerichtshof passt sicher nicht in die Planungen des Innenministeriums. Jahrelang hatte das Innenministerium immer wieder grundlegende Reformen des Rettungsdienstes angekündigt. Jetzt beklagen selbst wichtige Funktionäre im Rettungsdienst, dass der neue Landesrettungsdienstplan mehr oder weniger im Alleingang durchgepeitscht worden sei. Die Änderung der Hilfsfristen hatte die Politik als großen Erfolg gefeiert. Laut Ministerium wird sich dadurch die "rettungsdienstliche Versorgung der Patientinnen und Patienten weiter verbessern". Die Initiatoren der Normenkontrollklage sehen das ganz anders. Sie befürchten, dass in den nächsten zwei Jahren alles nur noch schlimmer werde. Sie haben deshalb am 13. Oktober 2022 ihre Klage eingereicht.

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