Neun Monate vor der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land steht die Nationalmannschaft ohne Trainer da. Hansi Flick ist seinen Job los. Der DFB trennte sich nach der 1 zu 4-Blamage gegen Japan am Samstagabend in Wolfsburg von dem 58-Jährigen. Harald Lange ist Professor für Sportwissenschaft an der Uni Würzburg. Warum er die Entlassung des Bundestrainers für ein Symptom eines massiven Führungsproblems beim DFB hält, erklärt Lange im Gespräch mit SWR-Aktuell-Moderator Andreas Böhnisch.
SWR Aktuell: Kam der Rauswurf von Hansi Flick gerade noch rechtzeitig?
Harald Lange: Das wird sich erweisen, wir haben ja gleich morgen das nächste Länderspiel. Da spielt die Mannschaft quasi ohne Trainer - beziehungsweise mit den beiden Trainern, die eigentlich für den Nachwuchsfußball zuständig sind. Sandro Wagner und Hannes Wolf, und Rudi Völler sitzt auf der Bank. Mein Tipp ist: Es klappt ohne Trainer definitiv besser als mit.
SWR Aktuell: Ist also jetzt ein Neuanfang im deutschen Fußball möglich, wo Hansi Flick weg ist?
Lange: Das ist die große Frage, denn man sich muss natürlich auch die Struktur hinter dem Trainer genau anschauen. Und da scheint der DFB seit geraumer Zeit ein massives Führungsproblem zu haben. Denn die verantwortlichen Oberen im DFB, allen voran der Präsident Bernd Neuendorf, hätten mit der Ära Flick spätestens nach dem WM-Aus Anfang Dezember vergangenen Jahres die Konsequenzen ziehen müssen und ebenso Flick viel früher entlassen müssen.
SWR Aktuell: Aber war es vielleicht auch eine falsche Entscheidung, Hansi Flick überhaupt als Bundestrainer, also als Cheftrainer zu verpflichten? Er stand ja so ein Stück weit auch in der Tradition von Joachim Löw, war ja ab 2006 als Co-Trainer an seiner Seite.
Lange: Das meine ich mit Führungsproblem innerhalb des DFB. Man konnte das ja ganz gut nachvollziehen, dass sich im DFB quasi so eine eigene Hausmacht aufgestellt hat rings um Oliver Bierhoff, der das Ganze sogar im Beton gegossen hat: Sprich, die DFB-Akademie für viel Geld gegründet und installiert hat. Und in diesem Dunstkreis ist der Nationalmannschaftsfußball so dahin geschwappt, steil nach unten, was die Performance betrifft. Und seitens der DFB-Oberen hat man jahrelang den Manager so gewähren lassen und auch seinem System treu bleiben lassen, sodass wir die Situation jetzt so haben, wie wir sie haben. Und der deutsche Fußball steht sportlich gesehen wirklich vor dem Nichts
SWR Aktuell: Schauen wir jetzt auf die Fußballfans, die mit dem Spiel, mit dem Erscheinungsbild, mit dem Auftreten der Nationalmannschaft unter Hansi Flick ja immer weniger anfangen konnten. Am Samstagabend, da war ich im Zug unterwegs, als gerade das Spiel gegen Japan stattfand. Und es gab wirklich beißenden Spott von einigen Mitreisenden dar, als die gesehen haben, dass Deutschland zurückliegt. Was muss ihrer Einschätzung nach passieren, damit eine neue Euphorie entsteht?
Lange: Da müsste zunächst einmal eine realistische Selbsteinschätzung wieder her. Uns wurde ja zuletzt auch wieder nach der WM Anfang Dezember vergangenen Jahres vom Präsidenten Bernd Neuendorf versprochen, dass man eine gründliche Analyse vorlegen wird zum WM-Aus. Das hat alles nicht stattgefunden. Das einzige, was stattgefunden hat. Bei Amazon Prime kann man „All or Nothing“ inzwischen streamen und sich anschauen. Das Dokument des Scheiterns der Nationalmannschaft - aber vom DFB selbst bislang liegt keine Analyse vor. Man baut nach wie vor auf das Prinzip Hoffnung, und das ist natürlich viel, viel zu wenig für die Fans. Die sachkundigen Fans in einem Fußballland, die erwarten weitaus mehr. Und die lassen sich auch nicht permanent veräppeln oder hintrösten, sondern die wenden sich dann tatsächlich ab. Und diese Abwendung vom Nationalmannschaftsfußball, die läuft spätestens seit 2018 und ist enorm weit fortgeschritten.
SWR Aktuell: Nun besteht ja die Hoffnung, dass mit einem neuen Cheftrainer die Begeisterung die Euphorie neu entflammt wird. Viele Namen wurden schon genannt, seit gestern auch der von Julian Nagelsmann. Wäre er der Richtige als neuer Cheftrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft?
Lange: Das ist die große Frage. Letztlich steht dahinter auch wiederum die maßlose Enttäuschung. Beziehungsweise, wenn man das jetzt versucht zu analysieren: Wo stehen wir denn jetzt? Suchen wir den Lucky Punch in Hinblick auf „gelingt es uns, einen tollen Trainer zu verpflichten“? In einem Fußballland mit der Tradition wie sie Deutschland hat, darf es niemals so weit kommen, dass man in einer Situation ist, wie wir jetzt sind. Neun Monate vor Beginn der Heim-WM sind wir völlig blank in der Trainerfrage. Und mit etwas Glück kriegen wir einen guten Trainer, und der soll es dann wieder retten. Das ist viel, viel zu kurz gedacht.