Osteuropa-Expertin: Deutsche Russlandpolitik ist immer noch zu zögerlich

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AUTOR/IN
Andreas Böhnisch

Vor einem Jahr begann der Ukraine-Krieg eigentlich schon, als der russische Präsident Putin die sogenannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk formell anerkannt hat. Drei Tage später hat er seine Armee beginnen lassen, diese Teile des ukrainischen Staatsgebiets auch faktisch zu annektieren. Dieser agressive Akt passt nicht zu dem positiven Russlandbild, dass immer noch viele Menschen und auch einige Politiker in Deutschland haben. Woran das liegt, darüber hat SWR-Aktuell-Moderator Andreas Böhnisch mit der Russland-Expertin Dr. Sarah Pagung gesprochen. Sie ist Programmleiterin beim "Berliner Forum Außenpolitik" der Körber-Stiftung.

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SWR Aktuell: Haben wir in Deutschland Wladimir Putin zu lange hofiert?

Sarah Pagung: Wir haben sicherlich zu lange übersehen, welch eine Natur der Staat hat, den Putin dort aufgebaut hat, der massiv repressiv ist und autoritär, vor allen Dingen aber auch brutal nach innen und nach außen.

SWR Aktuell: Es gab ja Warnungen von Nato-Partnern im vergangenen Jahr, besonders von den USA, Putin werde einen Krieg in der Ukraine beginnen. In der deutschen Außenpolitik hielt man ein solches Szenario lange für unwahrscheinlich. Woran lag das Ihrer Meinung nach?

Pagung: Das lag aus meiner Sicht an zwei Faktoren: Zum einen, dass man die Art und Weise dieses russischen Regierungssystems so nicht erkannt hat, so vielleicht auch nicht wahrhaben wollte. Zum anderen aber auch, weil man vielleicht nicht glauben wollte, nicht glauben konnte, dass ein Krieg auch in dieser Größe in Europa wieder möglich ist, und man sich dann auf das zurückgezogen hat, wo man sich sicher fühlt und einfach diese Möglichkeiten ausgeblendet hat.

SWR Aktuell: Also: Die deutsche Politik hat Wladimir Putin komplett falsch eingeschätzt?

Pagung: Ja, ich glaube nicht nur ihn, sondern auch den russischen Staat als Ganzes. Es gab viele Zeichen: Einen Krieg in Tschetschenien, den Krieg gegen Georgien, den Krieg in Syrien, die massive Repression gegenüber der Opposition. Das hat man alles versucht, zu verargumentieren und sicherlich auch ein bisschen zur Seite zu schieben,

SWR Aktuell: Dieses Machtstreben Russlands in der Region ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu Tage gekommen. Lassen Sie uns jetzt noch mal auf die großen Parteien in Deutschland schauen CDU/CSU und SPD, die die deutsche Politik in dieser Zeit dominiert haben. Bei den Sozialdemokraten gehört die Russland-Freundlichkeit ja so ein bisschen zum guten Ton mit dazu. Welche Fehler wurden gemacht, wenn wir auch auf die Rolle des früheren Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier schauen?

Pagung: Die SPD ist ja durchaus auch mit Recht sehr stolz auf ihr Ostpolitik-Paradigma, das „Wandel durch Annäherung“, das ja die 70er-Jahre Politik der SPD und der Bundesregierung geprägt hat. Und man hat einfach übersehen, dass die Annahmen, die diesem zugrunde liegen, für heute nicht mehr zutreffen, dass man diese Ostpolitik nicht einfach fortsetzen oder wiederholen kann. Und das hat man eben verkannt. Man hat es einfach weitergemacht, obwohl ganz offensichtlich war, dass Russland an einer politischen Annäherung, an einem Transfer von Werten, an einer Demokratisierung gar nicht interessiert ist.

SWR Aktuell: Und dann ist da Angela Merkel. Die langjährige CDU-Chefin war 16 Jahre lang Bundeskanzlerin. In ihrer Amtszeit hat sich Deutschland in die energiepolitische Abhängigkeit Russlands begeben. Warum hat auch sie Wladimir Putin und Russland, so wie der russische Staat funktioniert, politisch falsch eingeschätzt?

Pagung: Ich glaube, das liegt bei ihr an zwei Faktoren. Zum einen ist dieses Ostpolitik-Paradigma, das eben sehr wichtig für die SPD ist, etwas, was wir eigentlich in der gesamten Gesellschaft, auch in der gesamten außenpolitischen Community gefunden haben. Und ich glaube, das ist auch etwas, was Angela Merkel geprägt hat: Dieses Ziel der Aussöhnung, dieses Ziel des Miteinandersprechens. Zum anderen hat sie aber auch einen Politikstil, der sehr auf Management, auf Verhandeln, auf Konsens ausgerichtet ist. Und sie hat versucht, das auch auf Russland anzuwenden - und dabei eben nicht erkannt, dass das kein Land ist, mit dem man in dem Sinne einen Konsens, eine Kooperation finden kann.

SWR Aktuell: Die russische Invasion in der Ukraine am 24. Februar des vergangenen Jahres hat eine Zeitenwende markiert. So hat es Bundeskanzler Olaf Scholz dann auch in einer Regierungserklärung im Bundestag gesagt. Seitdem hat sich die deutsche Außenpolitik neu orientiert, auch mit Außenministerin Annalena Baerbock. Geht das in die richtige Richtung, wie jetzt von Seiten der deutschen Außenpolitik gehandelt wird in Richtung Russland und Wladimir Putin?

Pagung: Ich glaube, wenn ich eine Bilanz des letzten Jahres ziehen muss, dann sehe ich viele Fortschritte und viele Dinge, die endlich passieren, die sicherlich in den Jahren davor auch schon hätten passieren können: Die Einsicht in die Art und Weise des russischen Systems, die Sanktionen, die wir sehen, auch die Unterstützung für die Ukraine. Wir sehen aber auch, dass Deutschland nach wie vor immer noch zögerlich reagiert und die Führungsrolle, die man ja selber auch proklamiert, man ja selber angibt zu haben, vielleicht doch nicht so oft fühlt, wie sich das gerade auch manche mittelosteuropäischen Staaten oder die USA wünschen würden. Als Stichwort nur, wie lange es gedauert hat, bis die Entscheidung zur Leopard-2-Lieferung dann wirklich gekommen ist.

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Andreas Böhnisch