Claudia Wetzel-Thiel, Leiterin des Bonhoeffer-Kinderhauses in Überlingen am Bodensee (Foto: privat)

Überlastung in Kindertagesstätten

Kita-Leiterin beklagt Personalmangel: Wollen nicht Verwahranstalt werden

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Andreas Böhnisch
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Stefan Eich

In vielen Kitas in Baden-Württemberg fehlen Erzieherinnen und Erzieher. Wie sich das auf den Alltag auswirkt? Claudia Wetzel-Thiel, Kita-Leiterin aus Überlingen im Interview.

SWR: Macht der Job trotz der Schwierigkeiten, trotz der großen Herausforderungen noch Spaß?

Claudia Wetzel-Thiel: Es macht immer noch Spaß und Freude, weil wir ja für die Kinder den Beruf ergriffen haben. Es ist immer noch faszinierend zu sehen, wie Kinder sich entwickeln und mit ihrer Neugierde und ihrer unglaublichen Lebensfreude immer noch uns Erwachsene überzeugen können, trotz dieser Misere irgendwie eine gute Lebensgrundstimmung zu vermitteln.

Fast wieder im Normalmodus

Sind Sie denn in Ihrer Kita am Bodensee, in Überlingen, trotz Corona, Pandemie, trotz der Aufnahme von Flüchtlingskindern aus der Ukraine wieder so ein Stück weit im Normalmodus?

Wir sind fast im Normalmodus. Wir sind durch Tiefen gegangen, so wie die meisten Kitas in Baden-Württemberg und in Deutschland. Wir hatten weniger Personal. Zu der Zeit waren einige Erzieherinnen erkrankt, wir mussten Randzeiten kürzen, wir mussten auch an einigen Tage schließen, und die Erzieherinnen sind in einen unglaublichen Stress geraten, sodass es nach der Corona-Krise oder noch in der Corona-Krise Kündigungen gab.

Das deckt sich ja auch mit der Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Da haben eine Mehrzahl der befragten Leitungen angegeben, sie könnten die gesetzlichen Vorgaben zur Aufsichtspflicht nicht erfüllen , weil eben einfach das Personal fehlt. Ich vermute mal, nach dem, was Sie gerade erzählt haben, war das bei Ihnen auch so?

Ja, das war bei uns auch so. Natürlich immer in Absprache mit dem Träger und unserer Verwaltung, die natürlich schon sehr darauf achtet. Und natürlich auch der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) Stuttgart, der uns natürlich ganz klare Vorgaben gibt: ab dem elften Kind eine zweite Fachkraft in der Gruppe. Und es ist in der Tat so: Wir waren da teilweise dann fast nicht mehr in diesem Bereich, wir mussten dann natürlich aufpassen. Und deshalb gab es eben auch Veränderungen im Personalplan.

"Erzieherinnen hatten das Gefühl, sie kriegen ihre Arbeit einfach nicht mehr bewältigt"

Wir mussten zeitweise die sogenannte Verfügungszeit der Erzieherinnen kürzen oder ganz streichen. Sie müssen sich vorstellen, jede Erzieherin in Baden-Württemberg hat eine bestimmte Zeit am Kind, die sie arbeitet, und eine bestimmte Zeit für ihre Verfügungszeit. Da bereitet sie vor, da bereitet sie nach, da gestaltet sie ihre Portfolios und ihre Entwicklungsgespräche. Und diese Zeit ist natürlich sehr, sehr wertvoll. Nur so kann auch qualifizierte Arbeit umgesetzt werden. Und diese Zeit musste gekürzt werden. Das gab natürlich dann Unzufriedenheit. Die Erzieherinnen hatten das Gefühl, sie kriegen ihre Arbeit einfach nicht mehr bewältigt. Und sowas macht natürlich auch unglaublich Stress und gibt natürlich auch eine dementsprechende Unzufriedenheit.

Rückkehr zur "Bewahranstalt" droht

Was bedeutet das für Sie als Leiterin einer Einrichtung?

Das ist natürlich sehr unangenehm, wenn man das einer Mitarbeiterin mitteilen muss. Und ich weiß ganz genau: Wenn wir da in diesem Modus weiter arbeiten müssten, dann wären wir irgendwann nicht mal eine Bildungseinrichtung, sondern eine Bewahrungsinstitution - "Verwahranstalt" hat man früher gesagt. Seit wir den Orientierungsplan haben in Baden-Württemberg, steht eben diese qualitativ hochwertige Arbeit noch stärker im Fokus. Und wenn wir das nicht mehr realisieren können, dann haben wir selbst das Gefühl, wir sind nicht mehr die Bildungseinrichtung, die wir vielleicht mal waren.

Fast alle Kita-Leitungen haben in der Umfrage angegeben, dass die hohe Arbeitsbelastung der Erzieherinnen und Erzieher krank macht, und dass diese Menschen dann einfach ausfallen. Wird also beim Kita-Personal bewusst auf Verschleiß gefahren?

Die Erzieherinnen haben mittlerweile tatsächlich einen hohen Krankenstand. Es sind Erzieherinnen und immer mehr Fachkräfte, natürlich auch Männer in dem Beruf, auch immer wieder in einem Burnout-Zustand. Sie brauchen mal eine Auszeit. Leider Gottes gibt es eben auch sehr gut qualifizierte Fachkräfte, die sich dann völlig neu orientieren, die gar nicht im pädagogischen Bereich bleiben.

Forderung: Mehr Wertschätzung, keine größeren Gruppen

Große Herausforderungen sind das für die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, und natürlich auch für die Kita-Leitungen. Was fordern Sie konkret von der Politik?

Also ich fordere konkret von der Politik, dass die Gruppen auf keinen Fall vergrößert werden - das ist ja schon im Gespräch. Im Moment rechnen wir für eine Tagheimgruppe grob 20 Kinder. Und es ist auch okay so. Auf keinen Fall dürfen es mehr werden, denn wenn wir das machen, dann können wir wirklich nicht mehr von Bildungseinrichtungen sprechen. In der heutigen Zeit geht das gar nicht, und ich fordere die Politik auf, den Erzieherinnen, den Erziehern, den Pädagogen, den Kindheitspädagoginnen und -pädagogen mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Das kann ich eben tun erstens natürlich im alltäglichen Dasein. Ich wünsche mir, dass unsere Vorgesetzten, auch die Elternschaft natürlich, oder die Menschen, die mit uns vernetzt sind, unseren Mitarbeitern eine Wertschätzung entgegenbringen. Und auch die Eltern bitte ich darum, denn schließlich betreuen wir hier das Beste, was die Eltern haben, nämlich ihre Kinder. Und die Erzieherinnen geben ja auch wirklich das Allerallerbeste!

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