Überraschend bei der Europawahl war, wie die jungen Menschen abgestimmt haben. Beim letzten Mal hatten die meisten Jungwählerinnen und Jungwähler noch die Grünen gewählt. Diesmal stimmten sie vor allem für konservative Parteien, und für die, die sehr weit rechts stehen. Über diesen bemerkenswerten Wandel hat SWR-Aktuell-Moderator Bernhard Seiler mit Klaus Hurrelmann gesprochen, er ist Sozial- und Bildungswissenschaftler an der Hertie School in Berlin.
SWR Aktuell: Bei der Europawahl 2019 waren die Grünen ganz vorn, jetzt sind es Union und AfD - und die Grünen stürzen um 23 Prozentpunkte ab. Wie erklären Sie sich diesen kompletten Sinneswandel?
Klaus Hurrelmann: Wir wissen aus allen Studien, dass die jungen Wähler sehr viel mehr noch als die älteren Themen-Wähler sind. Sie schauen: Wofür steht denn eine Partei? Und ist das ein Thema, das auch in meinem persönlichen Horizont liegt? Danach fällt die Entscheidung. Und dann muss man feststellen: Die Grünen, die ganz stark auf den Klimawandel, auf die Umweltpolitik gesetzt haben, finden ihre Resonanz. Aber sie haben nicht die Themen getroffen, die für die jungen Leute ganz vorne stehen. Das ist nicht mehr so sehr das Klima, sondern es sind die wirtschaftlichen, unsicheren Aussichten und die Gefahr, dass man in eine Inflation hineinläuft, dass der Wohnraum knapp wird, das ganze Leben teurer wird, und dass das Rentensystem möglicherweise nicht stabil ist. Der Krieg in Europa und natürlich die Migration, die unkontrollierte Migration, die Flüchtlingsströme - das sind die Themen. Und die sind dann von den Grünen und auch von den anderen Regierungsparteien nicht in einer solchen klaren Weise aufgenommen worden, dass die jungen Leute sich angesprochen fühlen.
"Die drei Parteien der Bundesregierung haben geschlafen"
SWR Aktuell: Aber der Klimawandel beschäftigt die jungen Menschen ja immer noch. Viele sind bei Fridays for Future oder anderen Organisationen aktiv. Die Grünen werden aber nicht mehr so gewählt. Wie passt das zusammen?
Hurrelmann: Der Klimawandel ist nach wie vor ein dringendes Thema für viele junge Leute. Aber da haben sich die anderen Themen, die ich nannte, doch deutlich in den Vordergrund geschoben und überlagern diese Sorge vor einer Klimakatastrophe. Und das muss sich im politischen Raum abbilden. Möglicherweise haben gerade die drei Parteien der Bundesregierung hier geschlafen. Die drei, das ist ja interessant, waren noch bei der letzten Bundestagswahl die absoluten Favoriten für die jungen Leute: Sie haben genau die Themen angesprochen, die junge Leute interessierten, und das hat sich ausgezahlt. Jetzt haben sie diesen Anschluss verpasst, und in diese Lücke sind die konservativen Parteien gegangen. Also einmal ist diese Wahl bei den jungen Leuten ganz eindeutig eine Abwendung von der Regierung. Von der ist man enttäuscht, die hatte man vorher wirklich begrüßt, mehrheitlich in der jungen Generation. Jetzt ist man enttäuscht, und dann gehen die ein ganzes Stück zur Opposition. Das sind CDU CSU, die auch bei den jungen Leuten kräftig punkten können, und vor allem aber AfD und Volt. Auch die kleineren Parteien bei der Europawahl sprechen die jungen Leute mit den Themen an. Eins kommt noch hinzu: Diese Parteien, vor allem die AfD, ein bisschen auch Volt, haben die jungen Leute auch kommunikativ auf den digitalen Kanälen erreicht. Auch das haben die drei Regierungsparteien, und auch CDU/CSU, überhaupt nicht gut hingekriegt. Und auch das rächt sich. Junge Leute sind digital unterwegs, und dort möchten sie auch angesprochen werden.
SWR Aktuell: Sie haben gesagt, die jungen Menschen sind nach ihrer Beobachtung Themen-Wähler, entscheiden also, welche Partei spricht die Themen an, die mir im Moment wichtig sind. Wenn wir jetzt auf die Landtagswahlen im Osten Deutschlands vorausblicken - oder auch auf die Bundestagswahl spätestens im kommenden Jahr. Könnte es sein, dass da die Themen- und Parteientscheidung schon wieder umschlägt in eine ganz andere Richtung?
Hurrelmann: Grundsätzlich ja. Gerade die Erstwählenden sind natürlich Spontis, die sind ja nicht festgelegt. Sie haben sich ja noch nicht entschieden gehabt vorher und können deswegen frei sein in ihrem persönlichen Votum für eine Partei. Und da schauen sie genau hin. Das ist eine echte Chance für alle Parteien, dass sie ein deutliches Profil entwickeln, Zukunftsperspektiven entwickeln. Junge Leute wollen natürlich auch wissen, wie es weitergeht. Die sind im Moment in einer sehr schlechten Stimmung, das können Sie auch aus der Studie „Jugend in Deutschland“ ablesen. Da ist zwar noch nicht richtig Pessimismus wie bei vielen anderen in der Bevölkerung. Aber es ist knapp mit dem Optimismus, man hat ein schlechtes Gefühl, wie es weitergeht. Schlechte Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung, für die politische Atmosphäre im Land, schlechte Prognosen in all diesen Bereichen, die sensibel für die jungen Leute sind, die für die Zukunft des Landes stehen. Keine Visionen, keine Perspektive. Das hat die Regierung auch nicht geschafft. Das wäre ganz wichtig, dass eine solche Zukunftsperspektive, eine Option nach vorne und ein Mut in den Wahlkampf hineinkommt. Dann haben auch die anderen Parteien jenseits der AfD eine echte Chance. Und eben nicht zu vergessen: Kommunikativ sein auf den digitalen Kanälen. Das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt, der Leute sehr stark beschäftigt.