In Krisenzeiten ruft die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff die nächste Regierung auf, ins Risiko zu gehen. Und erinnert zur Konfliktlösung an eine Erfahrung aus der Dorfkneipe.
Noch steht die schwarz-rote Koalition nicht. Und Friedrich Merz wartet weiter auf den Startschuss seiner Kanzlerschaft. Aber es ist klar: Die nächste Regierung muss eine Menge Krisen bewältigen. Die Frankfurter Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff hebt als größte Herausforderung weder die Verteidigung noch die Wirtschaft einzeln hervor. Sie schaut aufs Grundsätzliche – und ruft die nächste Regierung dazu auf, "ins Risiko zu gehen". Deitelhoffs Appell im ARD Interview der Woche: "Mutig sein, Deutschland verändern zu wollen, auch wenn das erstmal vielleicht Stimmungspunkte kostet."
Konkret heißt das zum Beispiel: Auf die beschlossenen milliardenschweren Schuldenpakete müssten Taten folgen. Im Bereich Verteidigung fordert Deitelhoff nicht nur, endlich eine Strategie zu entwickeln und die Ausrüstung der Bundeswehr zu verbessern. Sie sieht gerade beim Personal offene Fragen, die auch in den laufenden Koalitionsverhandlungen noch umstritten sind: "Brauchen wir wieder eine Wehrpflichtigenarmee? Oder wollen wir bei der Freiwilligenarmee bleiben? Wie finden wir genügend Menschen, die bereit sind uns zu verteidigen?"

"Man hat sich unter dem Schreibtisch verkrochen"
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ins vierte Jahr gegangen. Donald Trump bringt in seiner zweiten Amtszeit die gesamte Weltordnung ins Wanken. Nicole Deitelhoff, die das Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung leitet, wirft der Politik der vergangenen Jahre vor, Deutschland nicht ausreichend vorbereitet zu haben: "Man hat sich unter dem Schreibtisch verkrochen und gehofft, dass es doch irgendwie anders kommen würde. Das ist verheerend, aber kein neues Bild." Zu sehr habe man sich darauf verlassen, dass die USA in der Nato die Führung übernehmen.
Unter Donald Trump sind die USA nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin nicht nur zum Risiko geworden, sondern zu einer Bedrohung. Wenn sich jetzt Trump beispielsweise Grönland aneignen will, dann sei Deutschland darauf nicht vorbereitet. "Wir müssen jetzt gerade im Zeitraffer lernen", beschreibt Deitelhoff die aktuelle Lage. Deutschland in der Phase zwischen zwei Regierungen liefere derzeit das Bild eines Cliffhangers: Die Reform der Schuldenbremse habe international die Hoffnung geweckt, dass es mehr Engagement gibt in der Verteidigung. Die neue Regierung kann das aber noch nicht umsetzen. Deitelhoff verweist auf die Erwartung, dass sich die künftige Bundesregierung schnell mit Frankreich und Großbritannien zusammenschließt, und am besten auch mit Polen.
"Ich wäre glücklich, wenn Boris Pistorius Verteidigungsminister bliebe"
Wer wäre die Idealbesetzung im nächsten Kabinett? "Ich wäre durchaus glücklich, wenn Boris Pistorius Verteidigungsminister bliebe", sagt Nicole Deitelhoff im ARD Interview der Woche. "Er hat es geschafft, bei den Soldaten und Soldatinnen wieder Vertrauen zu erzeugen und das auch nach außen zu vermitteln." Am wahrscheinlich künftigen Kanzler Friedrich Merz erkennt die Konfliktforscherin zwei Seiten: Innenpolitisch sieht sie bei ihm bislang ein Verhandlungsgeschick, "das sich eher in Grenzen hielt und unnötig Konflikte erzeugt hat". Merz‘ erste internationale Reden und Auftritte sieht Deitelhoff dagegen wohlwollender: "Vielleicht liegt ihm das mehr. Zu zeigen, hier ist jemand, der sich engagiert und etwas erreichen will."
Was hilft, um Konflikte zu lösen? Nicole Deitelhoff bringt aus ihrer Kindheit auf einem Dorf in Schleswig-Holstein die Erfahrung mit, dass man sich nicht weggucken kann. Ihre Eltern hatten eine Kneipe, sie erlebte dort die Konflikte der Dorfgemeinschaft mit. Und hat sich eine Eigenschaft bewahrt, um damit umzugehen: Furchtlosigkeit. "Nicht zurückzucken, sondern stehen bleiben, durchatmen und in der Situation bestehen können. Es wäre ganz wichtig, wenn wir uns diese Eigenschaft wieder etwas mehr anerziehen können."
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