Auf den ersten Blick scheinen im Tarifstreit bei der Bahn die Rollen eindeutig verteilt: Auf der einen Seite das - nach außen moderat auftretende - Unternehmen, das im Interesse seiner Kunden in letzter Minute - am Abend - den Lokführern noch ein deutlich verbessertes Angebot unterbreitet, das deren Forderungen weitgehend aufnimmt. Auf der anderen Seite ein keifender Gewerkschaftsführer Claus Weselsky, der starr und stur trotz allem weiter streiken will. Wie angekündigt bis Dienstag, bis zum bitteren Ende für Bahnreisende und Pendler…

Kein Wunder also, dass die Bahn nun auch gerichtlich gegen den Streik vorgehen will, möchte man meinen. Schließlich fragt man sich schon: Geht's noch, GDL? Was wollt ihr denn eigentlich noch?

Nicht so einfach, wie es scheint
Beim näheren Hinsehen allerdings, ist die Sache dann doch etwas komplizierter, sind die Rollen nicht mehr so klar verteilt. Denn warum gab es das Angebot der Bahn eigentlich erst gestern Abend? Der Streik stand doch schon seit letzter Woche fest, war also frühzeitig angekündigt. Und wieso würde das Last-Minute-Angebot der Bahn GDL-Neumitglieder von den Segnungen eines neuen Tarifabschlusses ausschließen? Ging es der Bahn mit dem Angebot am Ende nicht doch darum, in der Öffentlichkeit als die Gute dazustehen? In Kauf nehmend, den GDL-Chef damit erst richtig sauer zu machen?
Wer sich die langsam kippende Stimmung im Land anschaut, kommt zum Schluss: Das scheint der Bahn auch zu gelingen. Nur löst man einen Tarifstreit, der komplett festgefahren scheint, so nicht mehr auf. Zumal auch die Strategie der GDL, sich möglichst streitbar und entschlossen zu zeigen, aufzugehen scheint: Die Bahn verbessert ihr Angebot, und zudem gewinnt die Lokführergewerkschaft - im Wettstreit mit der Konkurrenz von der EVG - neue Mitglieder.
Siegt am Ende die Vernunft?
Was also tun? Erneut eine Schlichtung versuchen? Nach der Politik rufen? Drei Wochen vor einer Bundestagswahl sind Millionen von Bahnfahrenden schließlich auch keine unbedeutende Wählergruppe… Oder noch auf Einsicht und Vernunft aller Beteiligten hoffen?
Fest steht, irgendwann müssen Bahn und GDL wieder zusammenkommen. Freiwillig oder erzwungenermaßen. Ob das aber jetzt vor Dienstag gelingt, ist für mich höchst fraglich. Im Sommer 2021 stehen die Zeichen der Zeit nicht auf Streik, sondern auf Verhandlung und Kompromiss, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Bislang noch ein ungehörter Appell an die Vernunft.