Innenraum des Münsters in Ulm.  (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance / Klaus Nowottnick | Klaus Nowottnick)

Exklusive SWR-Umfrage und -Datenanalyse

Warum viele Menschen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz aus der Kirche austreten

Stand
AUTOR/IN
der SWR Redaktion Religion und Welt
ONLINEFASSUNG
Matthias Roman Schneider

Streitpunkt Kirche: Der SWR hat eine exklusive Umfrage unter Ausgetretenen aus den beiden großen christlichen Kirchen durchgeführt. Es gibt einige Beweggründe für deren Schritt.

Immer mehr Gläubige wenden sich von der Kirche ab. Geld und unzureichende kirchliche Strukturen sind nach der wissenschaftlich begleiteten SWR-Datenanalyse wichtige Beweggründe einiger Menschen zum Kirchenaustritt. Viele der Befragten benötigen demnach die Institution nicht, um gläubig zu sein. Andere wiederum geben an, keinen Bezug mehr zum christlichen Glauben zu haben.

Warum verlassen Menschen die Evangelische und Katholische Kirche? Aus der Redaktion Religion und Welt berichtet Susanne Babila:

Kein Geld mehr für die Institution Kirche

Fast neun von zehn Teilnehmenden gaben gegenüber dem SWR an, dass sie ausgetreten seien, um die Institution Kirche nicht länger finanziell zu unterstützen. Finanzielle Sorgen spielten bei den meisten Befragten dabei keine Rolle.

Als Gründe wurden vielmehr die Missbrauchsfälle und der Umgang der Kirchen damit genannt. Unter den katholischen Teilnehmenden waren das sogar knapp 91 Prozent, unter den Protestanten 70 Prozent.

SWR-Befragung zu Kirchenaustritten Das bewegt Menschen im Südwesten dazu, die Kirche zu verlassen

Kirchenaustritte haben in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen. 2021 verließen laut statistischem Bundesamt 360.000 Menschen die Katholische Kirche - ein neuer Rekordwert. Die Evangelische Kirche verzeichnete 280.000 Austritte.

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Impuls zum Kirchenaustritt: der Umgang der Kirchen mit Missbrauchsfällen

Auch Martin Böttcher hatte an der Umfrage teilgenommen. Der 42-Jährige ist berufstätig und lebt in Mainz. Als er vor wenigen Monaten seinen Austritt aus der Katholischen Kirche offiziell auf dem Standesamt erklärte, erhielt er einen Zugang zur SWR-Umfrage und äußerte sich auch in einem späteren SWR-Interview zu seinen Gründen für einen Kirchenaustritt.

Er habe seit langem auf eine Wende im Umgang mit den Missbrauchsopfern gehofft, so Böttcher. Doch hier sei er besonders enttäuscht worden: Wenn man eine persönliche Vita habe, die stark verbandelt sei mit der Kirche, dann falle es einem sehr schwer, dieses Band zu trennen. "Aber ich habe immer mehr ein Problem mit der Amtskirche, wie die mit bestimmten Dingen umgeht."   

"Da ist die Aufarbeitung des Missbrauch-Skandals, dass man einfach versucht, Dinge unter den Tisch zu kehren. Das widerstrebt mir."

Religiös auch ohne Kirche

Der Kirchenaustritt bezieht sich laut Umfrage in erster Linie auf die Institution Kirche und weniger auf die Religiosität und den Glauben an und für sich. Das zeigt sich darin, dass nur knapp die Hälfte der Befragten (47,7 Prozent) der Aussage zustimmt, keinen Bezug mehr zum christlichen Glauben zu haben, und über die Hälfte (55 Prozent) zustimmt, auch ohne Kirche religiös sein zu können. Auch fühlt sich etwa ein Viertel der Teilnehmenden nach dem Kirchenaustritt weiterhin als katholisch oder protestantisch und wird beten beziehungsweise seine Kinder an Aktivitäten in den kirchlichen Gemeinden teilnehmen lassen.

Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, hat die SWR-Datenanalyse zu den Kirchenaustritten wissenschaftlich begleitet.

"Es sind jetzt immer mehr Religiöse, die austreten. Das muss eigentlich einer katholischen Kirche in enormer Weise Sorgen machen."

Pickel merkt an, dass man immer mehr mitbekomme, dass die Blockadehaltung aus Rom eine Rolle spiele. "Das ist etwas, was ihnen auf Dauer schlicht und ergreifend ihre Gläubigen vertreiben wird." Das zeige die SWR-Umfrage deutlich.

Austritt nicht wegen Kirchensteuer

In der nicht repräsentativen Online-Umfrage gaben fast neun von zehn Befragten an, es sei ihnen wichtig, die Institution Kirche nicht länger finanziell zu unterstützen. Vielen Menschen geht es aber nicht darum, Geld zu sparen. Der Austritt erfolgt in über 77 Prozent der Fälle nicht aus eigenen finanziellen Sorgen, beziehungsweise weil die Ausgetretenen das Geld für sich benötigen.

Ralf Engelberger ist 60 Jahre alt und vor zwei Monaten aus der Evangelischen Kirche ausgetreten. Er habe keine Angst vor der Hölle, sondern Angst vor der Zukunft seiner Kinder und Enkel. Darauf gebe ihm die Kirche keine Antworten, so Engelberger. Wegen der Kirchensteuer sei er nicht ausgetreten.

Ralf Engelberger begründet seinen Kirchenaustritt nicht mit Geldsorgen (Foto: SWR)
Ralf Engelberger begründet seinen Kirchenaustritt nicht mit Geldsorgen.

"Ich spende relativ viel für verschiedene Institutionen. Und denke, dass ich das jetzt auch noch ein bisschen nach oben ziehen kann, wenn ich das Geld von der Kirchensteuer ein bisschen spare."

Katholische Kirche: Hauptgrund für Erosion ist die Stellung der Frau 

Zwei Drittel der knapp 870 Befragten nennen die fehlende Gleichstellung in der Kirche als weiteren wichtigen Grund für ihren Austritt. Die Hälfte von ihnen haben einen Hochschulabschluss, jede Dritte Abitur oder Fachhochschulreife und jeder Siebte eine Ausbildung oder mittlere Reife. Die Teilnehmenden waren im Durchschnitt 31 Jahre alt.

Die Freiburger Studentin Susanne Wolf stammt aus einer katholischen Familie und war als Jugendliche Ministrantin. Heute ist sie 29 Jahre alt und fühlt sich ihrer Kirche nicht mehr verbunden. Sie ist vor kurzem ausgetreten.   

Susanne Wolf fühlt sich als Frau nicht in der Kirche repräsentiert (Foto: SWR)
Susanne Wolf sieht Frauen in der Kirche nicht richtig wahrgenommen.

"Ich fühlte mich in der Kirche, so wie sie gerade ist, nicht mehr repräsentiert und auch nicht wirklich wahrgenommen, weil ungefähr die Hälfte der Bevölkerung aus Frauen besteht und das ist so nicht ersichtlich in der Kirche und sie sollte da auch einen moderneren Zeitgeist haben."

Reformbedarf und Wunsch nach modernerer Kirche

Die Befragten wünschen sich vor allem eine modernere Kirche und eine bessere Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Fast zwei Drittel wünschen sich eine Gleichstellung der Geschlechter, ein konsequenteres Vorgehen gegen Täter in Missbrauchsfällen und ganz allgemein ein "mehr mit der Zeit gehen", um wieder in die Kirche einzutreten.

"Wenn eben 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung umgehen können mit Gleichstellung, mit Frauenfragen, mit Feminismus, dann muss das auch die Kirche. Sie kann nicht sagen, das ist jetzt eben verteufelt. Das nimmt einem niemand mehr ab. Das ist zu fern von der Lebenswelt."

Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig (Foto: Swen Reichhold / Universität Leipzig)
Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, hat die SWR-Datenanalyse zu Kirchenaustritten wissenschaftlich begleitet.

Hintergrund der SWR-Umfrage

Die nicht repräsentative Onlineumfrage mit rund 20 Fragen ist ein Projekt des SWR unter wissenschaftlicher Begleitung durch den Religions- und Kirchensoziologen Prof. Dr. Gert Pickel von der Universität Leipzig. Austretende in mehr als 20 ausgewählten Standesämtern in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wurde zwischen 1. April und 31. August 2022 ein individueller Flyer mit Link auf den Fragebogen übergeben, in dem sie ihre Austrittsgründe anonym mitteilen konnten. Teilgenommen haben insgesamt 864 Menschen, davon waren zuvor 66,2 Prozent in der Katholischen und 33,6 Prozent in der Evangelischen Kirche.

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