Der Blick auf die Gasrechnung, den Kassenzettel im Supermarkt oder die Holzpreise für den Winter - vielen Menschen macht er zunehmend Sorge. Die Alltagsausgaben steigen, aber auf dem Konto ist trotzdem nicht mehr Geld. Vor allem Menschen mit geringen und mittleren Einkommen müssen nun von der Politik entlastet werden, fordern Wirtschaftsexpertinnen und -experten. Also Mittelschicht, untere Mittelschicht, die Armutsgefährdeten und Armutsbedrohten.
Die Bundesregierung debattiert über weitere Entlastungen, doch bereits ihr erstes Entlastungspaket wurde als zu wenig zielgerichtet kritisiert. Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Danyal Bayaz (Grüne) bemängelt auf Twitter auch die jüngste Entscheidung der Bundesregierung für eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas. Auch Menschen mit hohem Einkommen profitieren von ihr, während der Staat auf Einnahmen verzichtet.
Bringt die Ampel ein weiteres Entlastungspaket für die Bürgerinnen und Bürger auf den Weg - oder nicht? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will es, Finanzminister Christian Lindner (FDP) zumindest nicht mehr in diesem Jahr:
Muss die Mittelschicht zwar den Großteil der Last tragen, wird aber nicht ausreichend von der Politik entlastet?
Ist die Mittelschicht auch in BW und RP vom sozialen Abstieg bedroht?
Um diese Fragen beantworten zu können, muss man zuerst klären, wer die Mittelschicht überhaupt ist. Ein Ansatz: Man fragt die Menschen, wo sie sich in der Gesellschaft sehen. 73 Prozent der Deutschen zählen sich selbst zur Mittelschicht.
Der zweite Ansatz: Häufig wird die Mittelschicht auf Basis des Einkommens vom Rest der Gesellschaft abgegrenzt. Hat ein Haushalt monatlich 75 bis 200 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in seiner Region zur Verfügung, wird er zur Mittelschicht gezählt. Diese Spanne entsprach in Deutschland im Jahr 2018 einem monatlich verfügbaren Einkommen von etwa 1.500 bis 4.000 Euro im Fall einer alleinstehenden Person und von 3.000 bis 8.000 Euro im Fall eines Paares mit zwei Kindern. Nach dieser Definition gehörten 2018 knapp zwei Drittel der Deutschen zur Mittelschicht. In Baden-Württemberg ist die Mittelschicht mit 67 Prozent sogar größer als im Bundesschnitt, in Rheinland-Pfalz mit 63 Prozent etwas kleiner.
Die Mittelschicht schrumpft und altert - Einkommen steigen aber leicht
Zwischen 1997 und 2010 ist die deutsche Mittelschicht geschrumpft. Seitdem blieb sie aber relativ stabil. Nach 2015 erlebten Haushalte mit mittleren und niedrigen Einkommen außerdem sogar den ersten Anstieg ihres verfügbaren Einkommens in mehr als zwanzig Jahren.
Allerdings: In den vergangenen Jahren hat das Risiko, aus der unteren Mittelschicht in die Armutsbedrohung zu rutschen, zugenommen, während die Chancen in die Mitte aufzusteigen, abgenommen haben. Damit einher ging, dass die Mittelschicht stärker gealtert ist als die Gesamtbevölkerung. Personen, die älter als 45 sind, machen mehr als die Hälfte der Mittelschicht aus. Für die Generationen nach den Babyboomern wurde es zunehmend schwer, sich einen Platz in der mittleren Einkommensgruppe zu sichern. Für das Deloitte Millennial Survey wurden 800 Deutsche zwischen 19 und 39 Jahren zu ihren größten Sorgen befragt. Dabei kam heraus, dass sich Millennials (Jahrgänge 1983 bis 1994) und Angehörige der Gen Z (Jahrgänge 1995 bis 2003) nach dem Klimawandel die meisten Sorgen um steigende Lebenshaltungskosten machen. Rund 40 Prozent der Befragten gingen von einer Verschlechterung der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse in den nächsten zwölf Monaten aus.
Wirtschaftsexperte: Sorgen werden zunehmen, aber Mittelschicht ist stabil
Die aktuelle Krise spüre jeder im Geldbeutel, deshalb werde sie als Bedrohung der eigenen sozialen Stellung wahrgenommen, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung dem SWR. Auch er definiert die Mittelschicht über das verfügbare Einkommen, fasst in seiner Forschung die Mittelschicht aber etwas enger - für ihn gehört nur dazu, wer 70 bis 150 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens seiner Region zur Verfügung hat.
Frage an Markus Grabka: Ist die Mittelschicht also gerade besonders bedroht und durch Abstiegsangst geprägt?
Große Sozialbefragungen zeigten, dass Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung parallel zur wirtschaftlichen Situation in Deutschland verlaufen, erklärt er. Individuelle Sorgen wie die um den eigenen Arbeitsplatz oder den eigenen sozialen Abstieg seien aber in den unteren Einkommensschichten deutlich ausgeprägter als in der Mittel- und oberen Mittelschicht, so Grabka. Was die jetzigen Krisen angeht - Corona, Ukraine-Krieg, Gaskrise, Inflation - kann er nur auf Sonderbefragungen zurückgreifen. Die Daten des Sozio-ökonomischen Panels hinken immer rund zwei Jahre hinterher.
"Meine Einschätzung ist, dass die Sorgen jetzt deutlich ansteigen werden, weil die Menschen die Veränderung ihres verfügbaren Einkommens direkt wahrnehmen", sagt Grabka.

Was die wirtschaftliche Stabilität der Mittelschicht angeht, ist Grabka dagegen optimistisch. Im Gegensatz zu Krisen der Vergangenheit sei die Inflation aber tatsächlich ein Phänomen, das die gesamte Bevölkerung gleichermaßen treffe. Deshalb sei es Aufgabe der Bundesregierung, gezielt den Menschen in der unteren Mittelschicht, den Armutsbedrohten und Armutsbetroffenen zu helfen. Er habe jedoch "ein gewisses Vertrauen", sagt Grabka, dass die Ampel-Regierung es mit Entlastungspaketen schaffe, die Belastungen gezielt dort auszugleichen, wo sie besonders schwer wiegen.
"Ich glaube, der Bundesregierung ist bewusst, dass sie die Menschen nicht im Regen stehen lassen kann."
Soziologe: Abstiegsangst der Mittelschicht kleiner als angenommen
Die populäre These von der deutschen "Angstgesellschaft" und der großen Abstiegsangst der Mittelschicht hält der Marburger Soziologe Jan Delhey für übertrieben. Der 53-Jährige forscht zu objektiver Lebensqualität und subjektiver Lebenszufriedenheit. Für ein Buch hat er geprüft, ob an der populären These von der deutschen "Angstgesellschaft" etwas dran ist. Delhey sagt: Je unsicherer die eigene wirtschaftliche Situation, desto größer die individuellen Sorgen.
Für große Teile der Bevölkerung sei es seit den 2010er Jahren trotz diverser Krisen wirtschaftlich eher bergauf als bergab gegangen. Gerade in Bundesländern mit einer breiten Mittelschicht wie Baden-Württemberg und Bayern stuften sich die Menschen selbst bei Befragungen häufiger in der mittleren und oberen Mittelschicht ein, "einfach weil sie im Alltag erleben, dass sie die meisten materiellen Bedürfnisse gut erfüllen - sich vieles leisten können".
Bis zur Corona-Pandemie sei die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben so hoch gewesen wie nie seit der Wiedervereinigung, so Delhey. Zwar zeige sich in den letzten Jahren die Tendenz, dass die Zahl der sozialen Aufstiege ab- und die der Abstiege zunehme. Insgesamt sei der soziale Aufstieg in Deutschland aber immer noch häufiger als der Abstieg.

Mit Inflation und Energiekrise sei man jetzt aber tatsächlich an einem Punkt, wo so starke Einbußen vor der Tür stünden, dass auch die subjektive Lebenszufriedenheit darunter leiden könne, sagt Delhey. In der Vergangenheit sei das für größere Bevölkerungsgruppen ausgeblieben. In seiner Forschung hat sich gezeigt, dass der Mensch sich veränderten Bedingungen anpasst. So muss die Unzufriedenheit auch in einer Krise nicht zwingend zunehmen. Denn, erklärt der Soziologe: Auch wenn sich Dinge verbessern, steige die Zufriedenheit nicht zwingend an.
So könnte die Politik die Mittelschicht stärken
Apropos Dinge verbessern. Wenn vor allem die mittlere und untere Mittelschicht durch Inflation und Energiekrise jetzt zunehmend unter Druck stehen - wie könnte die Politik die Mittelschicht gezielt unterstützen?
Die OECD-Studie macht dazu einige Vorschlage:
- Die Steuerbelastung sollte laut OECD-Studie bei den mittleren Einkommen reduziert werden. Als Ersatz könnten etwa der Spitzensteuersatz erhöht, eine Finanztransaktionssteuer oder eine Vermögenssteuer eingeführt werden
- So sollten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einfacheren Zugang zu Weiterbildungen erhalten - etwa durch mehr Geld für Fortbildungen und Karriereberatung
- Außerdem müsse allen jungen Menschen ermöglicht werden, eine Berufsausbildung oder die Fachhochschulreife zu erhalten. Als Positivbeispiel nennt der OECD-Bericht die staatliche Ausbildungsgarantie in Österreich
Fast 36.000 freie Stellen Immer mehr Ausbildungsplätze in BW nicht besetzt
Immer weniger Azubis und viele freie Ausbildungsplätze: Dieser Trend hat sich in Baden-Württemberg erneut bestätigt. Die Gründe dafür sind vielfältig.
- Auch braucht es laut der OECD-Analyse mehr zukunftssichere Arbeitsplätze für Angehörige der Mittelschicht in Deutschland. Diese könnten beispielsweise durch öffentliche Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft und die Digitalisierung geschaffen werden
- Die Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt müsse gestärkt werden, um die wirtschaftliche Situation von Mittelschichtshaushalten langfristig zu verbessern - etwa durch eine Reform des Ehegattensplittings und der Minijobregelung sowie durch verbesserte Kinderbetreuung
Die Gefahr aus der unteren Mittelschicht in die Armutsgefährdung abzurutschen ist heute in Deutschland größer, als umgekehrt die Chance in die mittlere Mittelschicht aufzusteigen. Das sieht Jan Delhey als Problem. Für eine offene Gesellschaft, die Aufstiegschancen bieten und Leistung belohnen will, - "für die muss ein Rückgang der Aufstiegsmobilität ein Alarmsignal sein", sagt der Soziologe. Es wird eine der großen Herausforderungen für die Politik in dieser Krise sein, die Mittelschicht nicht aus den Augen zu verlieren.