Viele Menschen im Südwesten warten darauf, dass Corona-Beschränkungen gelockert oder aufgehoben werden. Die Entscheidung darüber liegt nun in den Landkreisen. Öffnungsschritte hängen eigentlich von den regionalen Inzidenzwerten ab. Eine SWR-Datenanalyse zeigt allerdings, dass die häufig zitierte „Sieben-Tage-Inzidenz“ an Aussagekraft verloren hat. Eigentlich sollten verlässliche Schwellenwerte für die Inzidenz eine klare Automatik zwischen Öffnungsschritt und Maßnahmenverschärfung in den Landkreisen vor Ort sicherstellen. Aber die Regelungen lassen ein Durcheinander befürchten. Eine Vergleichbarkeit der Landkreise ist nicht gegeben. Wir erklären, warum das so ist.
- Die Länder-Verordnungen lassen viel Raum für träge Entscheidungen.
- Die Inzidenz wird wegen des Meldeverzugs sehr häufig zu niedrig angegeben.
- Die Vergleichbarkeit hängt auch davon ab, wie viel in den Landkreisen getestet wird.
- Kleine Landkreise sind tendenziell benachteiligt.
1. Der weite Interpretationsspielraum in den Verordnungen
In Baden-Württemberg gib es eigentlich vier Stufen. Überschreitet ein Kreis einen Grenzwert drei Tage in Folge, gilt die nächsthöhere Beschränkungsstufe. Unterschreitet der Kreis fünf Tage in Folge den unteren Grenzwert, tritt eine Öffnungsstufe in Kraft. Die Stufen gelten für Inzidenzwerte von 0 bis 35, von 35 bis 50, von 50 bis 100 und über 100. Die Verordnung des Landes weicht diesen Automatismus aber auf:
Bei der Bewertung der Inzidenzwerte kann das Gesundheitsamt die Diffusität des Infektionsgeschehens angemessen berücksichtigen.
Calw und Göppingen rechnen jetzt anders
Die Landkreise Calw und Göppingen haben diesen Paragraphen bereits genutzt. Dort gilt nun eine so genannte „bereinigte Inzidenz“ an. Hier rechnet das Gesundheitsamt offenbar alle Fälle raus, die einem nachverfolgbaren Ausbruch zugeordnet werden können, so eine Pressemitteilung des Kreis Göppingen:
Entsprechend der Corona-Verordnung des Landes … hat das Gesundheitsamt festgestellt, dass die Erhöhung der Inzidenz auf über 50/100.000 Einwohner nicht durch eine Diffusität des Infektionsgeschehens verursacht ist, sondern dass der Anstieg der Fallzahlen im Wesentlichen durch Ausbruchsgeschehen (u.a. Pflegeheim, Kindergarten, Großfamilie) verursacht wurde. Aufgrund dieser Sachlage bewertet das Gesundheitsamt das Infektionsrisiko im Landkreis Göppingen derzeit analog einer Inzidenz von unter 50/100.000 Einwohner.
Aufgrund der dynamischen Lage musste der Landkreis schon drei Tage später, am 10. März 2021, ankündigen, dass die Lockerungen wieder zurückgenommen werden. Man habe doch ein diffuses Geschehen, so die Begründung. Ab Samstag, den 13. März kehre der Landkreis zu strengeren Regeln zurück.
Manipulation und Ausweichverhalten möglich
Der Wissenschaftler und Epidemiologe Dr. Ralph Brinks von der Uni Witten-Herdecke befürchtet, dass der eigentlich fundierte wissenschaftliche Inzidenzwert immer weiter ausgehöhlt wird:
Wann immer wir eine wissenschaftliche Maßzahl unter politischen Druck setzen und zum Ziel von politischen Maßnahmen machen, dann wird sie zum Gegenstand von möglicherweise Manipulation, von Ausweichverhalten.
Dieser Effekt ist unter anderem als „Goodharts Gesetz“ aus den Wirtschaftswissenschaften bekannt. Dabei muss man wissen, dass die örtlichen Gesundheitsämter in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz keine unabhängige Behörden sind, sondern als Abteilung beispielsweise im Landratsamt angesiedelt sind. Die Behördenleitung liegt dann jeweils beim Landrat oder bei der Landrätin.
Calw halbiert den Inzidenzwert
Der Landkreis Calw etwa liegt am Dienstag, den 9. März 2021 eigentlich bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 64,7, berechnet die „bereinigte Inzidenz“ aber nur auf knapp die Hälfte, nämlich auf 35,2. Der Landrat von Calw, Helmut Riegger, erklärte dazu:
Unser Gesundheitsamt ist jederzeit – wie schon während der gesamten Pandemie – in der Lage, eine vollständige Kontaktpersonennachverfolgung zu gewährleisten. Wir haben in Teilen ein diffuses Infektionsgeschehen, in maßgeblichen Teilen aber auch ein abgrenzbares Ausbruchsgeschehen, welches wir unter Kontrolle haben. Beides können wir fallscharf voneinander abgrenzen.
Diffuses Geschehen ist nicht definiert
Diffuses Geschehen ist aber auch ein diffuser Begriff. Es gibt dafür keine wissenschaftliche Definition oder gesetzliche Regel in Baden-Württemberg. Das allgemeine Verständnis im Zusammenhang mit Corona hat sich durchgesetzt, dass es um nicht nachvollziehbare Ansteckungen geht.
Bislang hieß es sehr häufig seitens der Gesundheitsämter und auch vom RKI, dass in bis zu 90 Prozent der Fälle der Ansteckungskontext nicht ermittelt werden kann. Entsprechende objektive Kennziffern wie etwa die Quote erfolgreichen Kontaktnachverfolgung, der Anteil der getesteten Kontaktpersonen oder die aktuelle Leistungsfähigkeit des Gesundheitsamtes bei der Nachverfolgung werden in der Regel nicht veröffentlicht.
Deshalb ist im Einzelfall nicht nachvollziehbar, ob auch politische Interessen bei der Bewertung der Lage eine Rolle spielen. Der Druck von Einzelhändlern etwa könnte eine Rolle spielen. Ohne klaren Kriterienkatalog bleibt die Interpretation der Zahlen und die daraus abgeleiteten Entscheidungen politisch.
Verzögernde Reaktionsmechanismen in Rheinland-Pfalz
Auch in Rheinland-Pfalz lässt die neue Verordnung einen überraschend großen Spielraum. So sind Landkreise und kreisfreie Städte zu einer so genannten Allgemeinverfügung nur dann automatisch verpflichtet, wenn der Inzidenzwert über 100 steigt. Das gilt solange landesweit die Inzidenz stabil unter 50 liegt, ein doppelter Boden in der Regelung nach Paragraph 23 Absatz 4:
Übersteigt die ... 7-Tagesinzidenz... landesweit an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Zahl 50, so gilt Absatz 3 Satz 2 Nr.1 (Anm.d.R.: genannt werden hier „zusätzliche Schutzmaßnahmen“) für Landkreise und kreisfreie Städte mit einer Inzidenz von über 50 entsprechend. In den von Satz 1 betroffenen Landkreisen und kreisfreien Städten sind binnen 24 Stunden entsprechende Allgemeinverfügungen zu erlassen.
Maßnahmen mit angezogener Handbremse in Rheinland-Pfalz?
Vor dem Hintergrund des bestehenden Meldeverzugs bei Neuinfektionen ist diese Regelung in Rheinland-Pfalz erstaunlich. Das zeigt eine SWR-Datenanalyse aus den vergangenen Wochen: Zwischen dem 19. Februar und dem 4. März lag die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz demnach kontinuierlich bei 50 oder höher. Geht man rein nach den am Tag vermeldeten Inzidenz-Werten wäre die Grenze von 50 nur an sechs der 14 Tage überschritten worden. Die Notwendigkeit für verschärfte Maßnahmen wäre damit verspätet festgestellt worden und sehr viel zu früh wieder aufgehoben worden. Das Beispiel zeigt, dass diese Regelung eine Entscheidung zur Verschärfung von Maßnahmen auf Landkreisebene stark verzögern wird.
Zwar formuliert die Verordnung das Ziel, die Inzidenz in den Landkreisen unter 50 zu halten. Eine Verpflichtung für „zusätzliche Schutzmaßnahmen“ tritt aber formell erst in Kraft, wenn das ganze Land Rheinland-Pfalz insgesamt einen Inzidenz-Wert über 50 vorweist.
In Rheinland-Pfalz spielt die Diffusität keine Rolle in der Verordnung.
2. Inzidenzen häufig zu niedrig
Die Automatismen werden darüber hinaus durch den Meldeverzug stark beeinflusst. Denn der am Tag verkündete Inzidenzwert liegt fast immer unter dem wenige Tage später festgestellten Wert. Dann nämlich, wenn die Inzidenz auf Basis aller dann bekannten gemeldeten Fälle berechnet wird. In der Regel dauert es drei bis vier Tag, bis alle Neuinfektionen für den jeweiligen Tag vollständig dokumentiert sind. Dies kann dazu führen, dass ein Schwellenwert eigentlich seit Tagen bereits überschritten wurde und damit eine Verschärfung der Maßnahmen angezeigt wäre. Die Verordnungen bleiben hier unscharf.
3. Der Wert hängt auch davon ab, wie viel getestet wird
Einen starken Einfluss auf die Inzidenzwerte hat auch die Anzahl der Testungen und die tatsächliche Anwendung der Teststrategie z.B. auf symptomlose unmittelbare Kontaktpersonen von Infizierten. Bis heute gibt es keine Zahlen, wie viele Menschen in einem Landkreis pro Woche getestet werden. Eigentlich hatten sich sowohl der Landkreistag, als auch Wissenschaftler und der Verband der Labore in Deutschland (ALM) im Gesetzgebungsverfahren zum neuen Infektionsschutzgesetz im November klar dafür ausgesprochen, dass die alle durchgeführten PCR-Tests, also positive und negative Ergebnisse bei dieser sehr zuverlässigen Testart, meldepflichtig sein sollten.
Bundesgesundheitsministerium ignoriert Empfehlungen von Experten
Im Gesetz blieben schließlich alle Empfehlungen unberücksichtigt. Das Bundesgesundheitsministerium erklärt auf SWR-Anfrage, dass es die derzeitigen gesetzlichen Regelungen diesbezüglich als ausreichend ansehe. Es gäbe keine Planung zur Erfassung negativer Testergebnisse:
Negative Ergebnisse aus PCR-Untersuchungen zeichnen kein vollständiges oder sogar ein verzerrtes Lagebild, weil negative Testergebnisse aus Schnelltests nicht berücksichtigt wären.
Das Bundesgesundheitsministerium ignoriert also die Einwände von Kommunen, Experten und Laborverbänden. Damit verhindert das Ministerium, dass die offiziellen Infektionszahlen von Landkreisen tatsächlich vergleichbar wären. Denn die Grundlage, wie die Anzahl von positiven Tests zustande kommt, werden nicht erfasst. Dabei wären die Häufigkeit von Tests und die Positivrate in einem Landkreis ein wesentlicher Baustein, um die Dunkelziffer in der Bevölkerung vor Ort einzuschätzen.
4. Kleine Landkreise sind tendenziell benachteiligt
Die Sieben-Tage-Inzidenz setzt die gemeldeten Infektionsfälle ins Verhältnis zur Bevölkerung. Grundsätzlich dient das der Vergleichbarkeit. Es führt aber in einem dynamischen Infektionsgeschehen bei kleinen Landkreisen zu hohen und schnellen Schwankungen.
Ein Ausbruch in einem Altenheim kann schnell 20, 30 oder mehr Fälle nach sich ziehen. Für einen großen Landkreis hat das kaum Auswirkungen auf die Sieben-Tage-Inzidenz. Bei einem kleinen Landkreis dagegen schießt der Wert dadurch schnell nach oben. Objektiv ist die Gefahr eines unkontrollierbaren Ausbruchsgeschehens damit im kleinen Landkreis aber nur nicht unbedingt stark angestiegen.
Um das tatsächliche Infektionsgeschehen detaillierter zu berücksichtigen schlagen Epidemiologen vor, täglich oder wöchentlich weitere verlässliche Kennziffern aus den Infektionszahlen zu berechnen wie etwa den Anteil der Fälle in Altenheimen, die Inzidenz in bestimmten Altersgruppen oder die Anzahl an Kontaktpersonen und deren erfolgreiche Kontaktierung.
Fazit:
Die Koppelung von Lockerungsschritten an bestimmte Schwellenwerte lässt sich mit den gängigen Verordnungen nicht konsequent durchziehen. Interpretationsspielräume und unklare Formulierungen in den Verordnungen dürften zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen in den Landkreisen führen.