Eine deutsche Bundeskanzlerin bzw. ein Bundeskanzler greift – abgesehen vom Silvesterabend – selten zum Mittel der Fernsehansprache. In der Vergangenheit geschah das zum Abschluss wichtiger Verträge oder nach schweren, die Gesellschaft erschütternden Verbrechen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hätte sich am Abend des 24. Februar, dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine, in diese Linie einreihen können. Er tat es nicht.
Er hielt die Ansprache stattdessen am Sonntag, zweieinhalb Monate später, anlässlich des 77. Jahrestags der deutschen Kapitulation 1945. Den Anlass kann ich nur für vorgeschoben halten. Natürlich war es wegen des Ukraine-Kriegs ein „8. Mai wie kein anderer“ (Originalton Scholz), aber seine Brücke zwischen damals und heute, dem „Vermächtnis des 8. Mai“, wirkte auf mich konstruiert. Nach meinem Dafürhalten wollte der Bundeskanzler seine Politik erklären, ohne sich Fragen von Journalisten zu stellen.
Konstruierte Brücke zwischen Kapitulation und Ukraine-Krieg
Bei dieser Erklärung griff Olaf Scholz zu Plattitüden („Angst darf uns nicht lähmen“). Und widersprach sich auch. Er verkündete eine „maximale Solidarität“ mit den Angegriffenen, bedeutete ihnen aber zugleich, nicht alle Wünsche erfüllen zu wollen.
Ich frage mich, warum Olaf Scholz, ein intellektuell brillanter Mann, sich einer so hohlen Rhetorik bedient. Vielleicht kann er es nicht besser. Vielleicht nimmt er sich Angela Merkels Nichtreden zum Vorbild. Im einen wie im anderen Fall wird er, so meine Erwartung, politisch scheitern – zurecht, denn von einem Bundeskanzler erwartet die Bevölkerung in diesen Tagen erheblich mehr.