Ein Wanderfalke zieht seine Kreise über dem Stuttgarter Westen, ein Fuchs streift durch die Schrebergärten in Halbhöhenlage und ein Waschbär klettert die Regenrinne eines Wohnhauses hinauf. Was sich noch recht ungewohnt anhört, ist in vielen Groß- und Kleinstädten in Baden-Württemberg längst Normalität. Immer mehr Tierarten entdecken die Vorzüge von bebauten Gebieten für sich. Dass diese Entwicklung die Kommunen vor neue Herausforderungen stellt, zeigt sich ganz aktuell in den großen Städten Baden-Württembergs. Während Nutrias, Wildschweine und Wildkaninchen den Behörden in Karlsruhe Sorgen bereiten, überlegt die Stadt Stuttgart, wie sie der rasant wachsenden Zahl an Nilgänsen begegnen soll.
Probleme mit exotischen Tieren Nilgans-Plage in Stuttgart: Kommt ein "Gänsemanagement"?
Nilgänse sorgen mit Unmengen von Kot für Ärger in Parks und an Seen in Stuttgart. Bei den Behörden ist von einem "Gänsemanagement-Plan" die Rede. Aber tut sich wirklich was?
Wildtierbeauftragte und Stadtjäger sollen beraten und vermitteln
Die Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern, wie mit Wildtieren im Siedlungsraum umzugehen sei, haben sich in den vergangenen Jahren gehäuft. Daher hat das Land Baden-Württemberg reagiert. Wildtierbeauftragte und sogenannte Stadtjäger sollen für ein reibungsloses Miteinander von Tier und Mensch sorgen. Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg die Stadtjäger in das eigene Jagdgesetz mit aufgenommen. Dabei ist der Job weitaus weniger martialisch als die Bezeichnung vermuten lässt.
Die Tötung eines Tieres sei nur der letzte Ausweg, versichert Christof Janko, Wildtierreferent im Landwirtschaftsministerium. Vielmehr sollen die 150 bis 200 ausgebildeten Stadtjäger im Land die Rolle eines Beraters einnehmen, wenn es zu Berührungspunkten von Tier und Mensch kommt. "Der Stadtjäger jagt keine Tiere in der Stadt", sagt er. "Es geht um Kommunikation und Prävention."
Füchse und Steinmarder fühlen sich am wohlsten in der Stadt
Da sich die Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern, wie mit Wildtieren im Siedlungsraum umzugehen sei, in den vergangenen Jahren häuften, beauftragte das Ministerium die Uni Freiburg damit, den Tierbestand und dessen jeweilige Verbreitung im Land zu erfassen. In der Studie wurde deutlich, dass sich vor allem Füchse und Steinmarder eigentlich in jeder Stadt wohl fühlen. Auch Waschbären, Wildschweine und Gänse haben den Lebensraum für sich entdeckt. Genau wie Dachse und Rehe, welche meist aber nur in die städtischen Randgebiete kommen und sich dann wieder in die angrenzenden Wälder zurückziehen, wie beispielsweise in Freiburg.
Doch selbst vor einem Besuch in der Landeshauptstadt schrecken sie nicht zurück. "In Stuttgart stehen mittlerweile die Rehe in den Gärten und fressen das Gemüse ab", sagt Gerhard Pfeifer vom BUND Stuttgart. Mehr noch sind es hier aber vor allem Vögel, die von der Topografie und der Bebauung profitieren.

Amsel, Elster und Eichelhäher werden von vielen Menschen längst als klassische Stadttiere wahrgenommen, auch wenn das nicht immer so war. Auch der Mauersegler findet nach seiner Rückkehr aus Afrika Mitte April in den vielen Altbauten im Stuttgarter Westen Nischen und Spalten zum Nisten. Zudem mag er die Wärme der Stadt. Auch das Insektensterben auf dem Land spiele für Vögel eine Rolle, in die Stadt mit einem besseren Nahrungsangebot überzusiedeln, sagt Pfeifer.
Schnellstes Tier der Erde lebt in Stuttgart
Besonders auffällig sind in Stuttgart aber auch Greifvögel wie Mäusebussarde, Sperber oder Turmfalken. Oder aber der Wanderfalke, der im Sturzflug bis zu 320 Kilometer pro Stunde erreicht und damit als schnellstes Tier der Erde gilt. In den 1970er Jahren war er in Deutschland noch vom Aussterben bedroht und in Baden-Württemberg nur an den Felsen der Schwäbischen Alb beheimatet. Nun gibt es laut Pfeifer sogar inmitten der Landeshauptstadt fünf bis sechs Brutpaare. Da der Wanderfalke ausschließlich in der Luft jagt, schlägt er in der Stadt immer wieder auch Tauben.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass sich auch bedrohte Tierarten in urbanen Gebieten wohlfühlen können, ist der Uhu. Die Eulenart war in Deutschland beinahe ausgestorben. Mehr als 100 Jahre soll er laut Pfeifer auch nicht mehr in Stuttgart gelebt haben, da er sich sonst lieber in ruhigen, abgeschiedenen Gebieten aufhält. Doch nun hat er sich wieder in einem Steinbruch am Neckar angesiedelt. "Das war jahrelang undenkbar", sagt Pfeifer.
Ganz offensichtlich verstehen es einige Tierarten recht gut, sich anzupassen. Ist das der Fall, bieten urbane Räume den Tieren dank ihrer Heterogenität fast alles. Es gibt Wiesen, Parks und Teiche, aber auch alte Häuser, Industriegelände oder brach liegende Flächen. Seit den 1970er Jahren seien die Städte zudem noch viel grüner geworden, erklärt Pfeifer und spricht dabei gar von einem "Rettungsanker". Ganz so weit möchte Wildtierexperte Janko nicht gehen. Doch sagt auch er:
"Städte sind Hot-Spots der Biodiversität. Die Vielfalt ist sehr viel höher als auf dem Land. Darauf können sich Pflanzen und Tiere einstellen."
Das beste Beispiel ist dabei der Fuchs. Im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Technischen Universität München verglich Janko den Bestand von Füchsen in der Stadt mit denen auf dem Land. Das erstaunliche Ergebnis: Während in Wald und Flur pro 100 Hektar gerade einmal ein bis drei Füchse leben, sind es in der Stadt bis zu zehn.
Das hat verschiedene Gründe. Vor allem die sehr gute Nahrungssituation, aber auch ein passendes Tagesversteck und sichere Aufzuchtmöglichkeiten für die Jungen, sind laut Janko maßgeblich. Untergeordnet dürfte auch eine Rolle spielen, dass Füchse in der Stadt nicht gejagt werden und Menschen ihnen meist freundlich gesinnt sind. "Füchse wissen genau, wo sie überleben können", sagt Janko.
Kleinere Reviere mit viel größerem Nahrungsangebot
Ein weiteres Indiz, dass das Leben für Füchse in der Stadt sehr komfortabel ist, zeigt sich an der Reviergröße. In den Wäldern durchstreifen die Tiere teilweise Gebiete von 350 Hektar. In der Stadt sind es gerade einmal 50 Hektar. Denn weiter müssen sie sich auch nicht bewegen. Ob Früchte in den Gärten, Essensreste auf dem Kompost oder leicht zugängliche Mülltonnen: Der Tisch für die Allesfresser ist in den Städten reich gedeckt. Oft werden die Füchse sogar passiv von den Menschen gefüttert, wenn diese Futter für andere Tiere nach draußen stellen. Das gute Angebot hat auch zur Folge, dass Stadtfüchse nicht so stark um die Nahrung konkurrieren müssen und meist in Familienverbänden leben können, während die Tiere auf dem Land eher alleine oder zu zweit unterwegs sind.

In den zurückliegenden 20 Jahren hätten die Füchse die Städte in Deutschland für sich entdeckt, erklärt Janko. In Großbritannien sei das schon in den 1960/70er Jahren geschehen. Ohnehin stellt der Experte klar:
"Das sieht man weltweit. Das Phänomen gibt es in London und New York genauso wie in Stuttgart."
Und doch gibt es in der schwäbischen Metropole zwei Tierarten, die herausragen. Am bekanntesten sind wohl die Gelbkopfamazonen, die seit mehr als 30 Jahren im Schloßgarten und Rosensteinpark in Stuttgart leben. Da die exotischen Papageien dort auch in Baumhöhlen der riesigen Platanen brüten, gelten sie mittlerweile offiziell sogar als heimische Tierart. "Demnächst wird das Stuttgarter Rössle von der Gelbkopfamazone als Wappentier abgelöst", scherzt Pfeifer.
Tatsächlich ist die rund 60 Tiere starke Population etwas ganz Besonderes. Die eigentlich aus Mittelamerika stammenden Vögel sind vom Aussterben bedroht. Weltweit gibt es nur noch einige Tausend Exemplare. "Das Multi-Kulti passt gut zu Stuttgart", findet Pfeifer.
Größte städtische Feldhasen-Population in Stuttgart
Nicht ganz so bekannt wie die Papageien sind die Feldhasen. Laut Pfeifer gibt es in keiner Stadt in Deutschland eine so große Population wie im Rosensteinpark. Die riesigen Grünflächen, die Dunkelheit im unbeleuchteten Park in der Nacht sowie der nahe gelegene Abstellbahnhof bieten den Tieren beste Lebensbedingungen. Da überrascht es kaum, dass jüngst so viele Feldhasen in Baden-Württemberg gezählt wurden wie noch nie zuvor.
Ebenfalls sehr putzig anzuschauen, aber längst nicht so gern gesehen ist der Waschbär. Da er in Deutschland keine natürlichen Feinde hat, gilt er als Plage. Er macht es sich auf Dachböden gemütlich oder gelangt über Katzenklappen ins Haus und sorgt da für ein riesiges Chaos. Aktuell sei das beispielsweise im Kreis Göppingen ein Problem, sagt Pfeifer. Dann werden die Tiere auch mal mit Lebendfallen gefangen. Da sie aus rechtlichen Gründen aber nicht mehr freigelassen werden dürfen, müssen sie getötet werden. Das übernimmt dann tatsächlich der Stadtjäger.
Menschen freuen sich grundsätzlich über Wildtiere
Ein bisschen unangenehm kann auch der Besuch eines Dachses werden. Die nachtaktiven Tiere kommen in die Schrebergärten "buddeln ein Loch und nutzen es als Latrine", erzählt Pfeifer. Auch Maulwürfe sind wegen ihrer "Erdarbeiten" nicht ganz so beliebt. Dabei stehen die meisten Menschen den Wildtieren grundsätzlich sehr offen gegenüber. Gerade während der Corona-Pandemie habe beispielsweise das Füttern von Vögeln enorm zugenommen, sagt Pfeifer. Doch wenn dadurch plötzlich persönliche Nachteile entstünden, nehme die Tierliebe recht schnell ab.
Allerdings werden sich die Menschen an die Wildtiere in der Stadt gewöhnen müssen. Beide Experten sind sich einig, dass sich die aktuelle Entwicklung nicht so schnell umkehren wird. Im Gegenteil. Pfeifer rechnet in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sogar mit noch mehr Tieren in Stuttgart.
Bald auch Biber und Wolf in der Stadt?
So geht er davon aus, dass der Biber, der bereits in Esslingen gesichtet wurde, sicherlich bald auch in die Landeshauptstadt schwimmen wird. Selbst Wölfe werden auf ihren Wanderungen durch Deutschland laut Pfeifer irgendwann vereinzelt durch die nahegelegenen Wälder ziehen. Mehr dann aber auch nicht. Denn: "Der Wolf ist sicher kein Tier für die Großstadt", sagt Janko.