Wenn man in Pülfringen, einem Ortsteil der Gemeinde Königheim (Main-Tauber-Kreis), auf dem "Großen Acker" steht, gibt es fast keine Himmelsrichtung ohne: "An schönen, klaren Tagen sieht man im Norden, Osten und Süden zusammen circa 200 Windräder", sagt Siegfried Baumann. Sein Blick schweift dann bis nach Würzburg, über Schweinfurt entlang der Autobahn 81 bis nach Heilbronn. Nachts blinke es überall um den Ort herum in rot und weiß. "Es ist wie in einer Disko", fügt Baumanns Frau Ute hinzu. Der "Große Acker" liegt auf etwa 400 Höhenmetern.

Erste Windräder in dem 450-Seelen-Dorf Anfang der 2000er-Jahre
Als die ersten Anlagen Anfang der 2000er-Jahre innerhalb der Ortsgrenze gebaut wurden, sei vor allem viel Neugier dabei gewesen, sagt der 58-jährige gebürtige Pülfringer. Die Anlagen wurden mehr oder weniger akzeptiert, weil sie nicht wirklich störten. Sie wurden ausschließlich auf Privatgrundstücken gebaut und den Besitzern aus dem Dorf wurde die Pacht gegönnt.
Fukushima und Wechsel zu Grün-Rot in BW: Es gab eine Aufbruchstimmung
Die "Euphorie" für die erneuerbaren Energien, wie Siegfried Baumann es nennt, bekam im Jahr 2011 noch einen Schub. Die Bundesregierung hatte nach dem Reaktorunfall von Fukushima eine 180-Grad-Wende in der Energiepolitik vollzogen - hin zu mehr Strom durch Sonne und Wind. In Baden-Württemberg gab es zudem einen grün-roten Regierungswechsel. "Es ist Strom, der sich selbst erzeugt. Das ist doch was Gutes", ist der Technische Angestellte überzeugt. Damals standen innerhalb der Ortsgrenzen bereits 13 Anlagen.

Main-Tauber-Kreis "prädestiniert" für Windkraft
Auch Klaus Mandel vom Regionalverband Heilbronn-Franken hat damals eine "riesen Aufbruchstimmung" gespürt. Frei nach dem Motto: "Jetzt zeigen wir der Welt mal, wie Energieversorgung geht ohne Atomkraft." Der Main-Tauber-Kreis ist zu 80 Prozent ländlich geprägt und wenig besiedelt. Der aktuelle wie auch bereits frühere Windatlasse des Landes attestieren dort eine "starke Windhöffigkeit". Das heißt, es gibt viele Standorte, die für die Nutzung von Windkraftanlagen geeignet sind.
"In Gemeinderäten habe ich damals oft gehört: Wir stemmen das."
2013 kippt die Stimmung in der Pülfringer Bevölkerung
In Pülfringen kippte die Stimmung 2013. Um das Dorf sollten weitere Windräder gebaut werden. Der damalige Bürgermeister sprach von 19 zusätzlichen Anlagen - zu den bereits vorhandenen 13. Sein Argument sei gewesen, es gebe Geld für die Gemeindekasse, sagt Siegfried Baumann. Der Gemeinderat stimmte dem Flächennutzungsplanung zu.
"Wir sind doch nicht der Fußabtreter des Main-Tauber-Kreises."
Die Baumanns und mit ihnen ein Großteil des Dorfes begannen zu protestieren - nicht gegen die Windkraft generell wie sie sagen, sondern gegen noch mehr Anlagen. Höhepunkt war eine hitzige öffentliche Sitzung unter anderem mit Bürgerinnen und Bürgern und dem Investor ZEAG, einer Tochter der EnBW. Über die Sitzung berichteten damals auch überregionale Medien wie der SWR.
Unter Druck wird der Beschluss schließlich zurückgenommen
Der Gemeinderat zog den Beschluss schließlich zurück. Die ZEAG baute vorerst nur zwei weitere Räder. Diese sind allerdings mehr als doppelt so hoch wie die bereits aufgestellten. Doch seit diesem Sommer ist klar, dass es auch dabei nicht bleiben wird.

Investor droht mit Rechtsstreit
Der Betreiber ZEAG hatte eine Normenkontrollklage eingereicht und erst vor wenigen Monaten wurde eine außergerichtliche Einigung mit der Gemeinde erzielt. Das heißt, es werden sechs weitere Anlagen gebaut - im Gemeindewald. Außerdem kommen noch unabhängig davon drei weitere auf privaten Grundstücken hinzu.
Der Kompromiss mit der ZEAG sei für beide Seiten akzeptabel, sagt Ute Baumann, da die Gemeinde Nutznießer der Pacht sei. "Wir hoffen aber, dass nicht noch mehr Anlagen kommen", sagt die 56-Jährige. Für weiteren Protest fehle der Kampfesgeist.
Für Windkraft, aber gegen Windräder: Wie passt das zusammen?
Siegfried und Ute Baumann betonen immer wieder die Vorteile von Windkraft. Das Dorf sei offen dafür gewesen, die ersten Anlagen seien ohne Widerstand gebaut worden. Aber, so der Hauptkritikpunkt, es müsse verhältnismäßig sein. Es gebe Gegenden im Land, wo kein einziges Rad stehe, so Ute Baumann. In Pülfringen wären es dann 24.
In Baden-Württemberg gibt es aktuell 750 Anlagen (Stand: 30.6.2021), davon allein 146 im Main-Tauber-Kreis. (Quelle: Regionalverband Heilbronn-Franken)
Von der Politik ist das Ehepaar Baumann desillusioniert. So gab es laut den Baumanns beispielsweise keine Bürgerbeteiligung wie in der Nachbargemeinde im direkt angrenzenden Neckar-Odenwald-Kreis. Und von den versprochenen Ausgleichsmaßnahmen, wie das Pflanzen neuer Bäume, sei vor Ort auch nichts angekommen.
"Das hat man bei uns total falsch angepackt."
Für Klaus Mandel vom Regionalverband Heilbronn-Franken gibt es weitere Gründe, warum Bürgerinnen und Bürger gegen den Bau von Windrädern in ihrer engeren Umgebung sind. Mandel spricht von Sollbruchstellen zwischen ländlichem Raum und Verdichtungsraum. Den Menschen werde mehr und mehr klar, wie Nutzen und Lasten verteilt seien. Sie würden sich fragen, was sollen "wir hier unsere Landschaft verbauen, wenn die da in Neckarsulm Strom brauchen".

Landesregierung will 1.000 neue Windräder bauen
Die Pläne von Grün-Schwarz, in den kommenden Jahren 1.000 neue Windräder vor allem im Staatswald zu errichten, begrüßt Mandel. Wie das so schnell klappen soll, ist ihm allerdings ein Rätsel.
Den ersten Schritt hat das Land Baden-Württemberg bereits getan und im Oktober die ersten fünf Standorte im Staatswald festgelegt. Auf rund 1.900 Hektar sollen bis zu 90 Anlangen entstehen – und zwar in den Kreisen Ravensburg, Lörrach, Reutlingen und Rottweil. Weitere Kreise sollen folgen. Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag aus dem Mai wurde ein Flächenziel von zwei Prozent der Landesfläche für Wind- und Photovoltaik-Anlagen vereinbart.
Eine offiziell eingesetzte Task Force erarbeitet derzeit Konzepte, wie die Planungs- und Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen im Land mindestens halbiert werden können. Die Verfahren dauern derzeit im Schnitt sieben Jahre. Die Experten wollen ihre Ergebnisse voraussichtlich am kommenden Dienstag, 14. Dezember, vorstellen. Neu überdacht werden müssten in jedem Falle, so Klaus Mandel, Fragen zu Arten- und Denkmalschutz und die Beteiligungsrechte von Bürgerinnen und Bürger.
Eine "Taskforce" soll's richten Erneuerbare Energie: Wo steht Baden-Württemberg?
Eine "Taskforce" der Landesregierung soll Aufschwung für die Windkraft bringen. Aus Sicht der Befürworter ist das bitter nötig. Bundesweit liegt das Land auf den letzten Plätzen.
Das "Bürger-Windrad" in Gissigheim: Geht so Zukunft?
Wie man mehr Akzeptanz für Windkraft schaffen kann, zeigt das Beispiel im Ortsteil Gissigheim. Das Dorf liegt nur drei Kilometer entfernt von Pülfringen und gehört auch zur Gemeinde Königheim. Als dort 2002 ein Windrad eingeweiht wurde, spielte damals sogar die Musikkapelle.
Die Bürger waren zuvor aufgerufen worden, sich an der Anlage zu beteiligen. Rund 50 von ihnen, auch aus umliegenden Gemeinden, investierten damals 10.000 Mark. Bis heute gehört gut die Hälfte des Rades den Bürgern, etwas weniger als die Hälfte dem Betreiber. Das sei eine schöne Sache, sagt der Gissigheimer Edgar Münch, der auch beteiligt ist.

"Das erwirtschaftete Geld bleibt in den Familien"
Für den 81-jährigen Münch ist vor allem entscheidend, dass das Geld in die Familien fließe. "Es bleibt also hier in der Region", sagt der pensionierte Realschullehrer. Nur 2017 habe das Windrad "nichts abgeworfen" - wegen einer Windflaute. Ansonsten wurde jedes Jahr eine Summe erwirtschaftet. Obwohl die 20-jährige Förderung im kommenden Jahr ausläuft, haben die Eigentümer beschlossen, die Anlage so lange weiter laufen zu lassen wie der Gewinn die Kosten übersteigt.
"Die Menschen schauen hoch zum Berg und identifizieren sich mit ihrem Windrad."
Nun steht die Frage im Raum: Wäre es in Pülfringen also mit "Bürger-Windrädern" einfacher gelaufen? Edgar Münch ist da skeptisch und gibt zu, bei so vielen Anlagen in der Landschaft wie im Nachbardorf hätte es ziemlich sicher auch in Gissigheim Widerstand gegeben.

Landschaft ist Heimat, Ruhepol, Identität – Windräder stören
Im "Hotspot" Pülfringen habe sich die Landschaft "vielleicht zu sehr und zu schnell geändert", sagt Mandel. Die Landschaft diene als Heimat, als Ruhepol. Wenn sie überlastet werde, kämen die Menschen nicht mehr mit. Und er verweist nochmal auf die "Nutzen und Lasten" der Energiewende. "Ein Großteil der Heilbronner merkt morgens beim Rolladenhochziehen nichts von der Energiewende. Die Pülfringer sehen dagegen jedes Mal, dass Energiewende angesagt ist."