"So eine Aussage gerade von Herrn Kretschmann als Katholik zu hören ist nicht nachvollziehbar und völlig unbegründet. Wir als Muslime und die islamischen Religionsgemeinschaften sehen unsere Verfassung als Garant für die Religionsfreiheit und für die religiöse Vielfalt", sagt Muhittin Soylu von der Islamischen Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGBW) dem SWR.
Soylu kritisiert damit die Aussage des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne), der Islam sei in Deutschland "nicht wirklich integriert" und müsse sich an manchen Stellen reformieren. Dabei verwies er auf die Trennung von Staat und Kirche, ohne die Glaubens- und Religionsfreiheit nicht existiere. In der Novemberausgabe des Religions-Magazins "Herder-Korrespondenz" sagte Kretschmann außerdem, dass die heutige Vielfalt der Glaubenslandschaft in Deutschland eine große Herausforderung für die künftige Koalition im Bund darstelle.
"Der Islam in Deutschland hat ein Akzeptanzproblem"
Man könne keine Religion auf politischen Wunsch hin reformieren. Jede Religion habe ihre internen Prozesse und Instrumente auf die zeitlichen Herausforderungen Antworten finden zu können, sagt Soylu. "Auch der Islam." Der Islam habe außerdem kein Reformationsproblem in Deutschland, sondern ein Akzeptanz- und Anerkennungsproblem, so Soylu.
"Es ist frustrierend, so etwas zu hören", findet auch Merve Kayikci. "Wieder einmal werden wir alle in einen Topf geschmissen und problematisiert. Es wird von dem 'einen' Islam gesprochen", so die SWR-Journalistin, die in den sozialen Netzwerken auch als "Primamuslima" aktiv ist.
Kretschmanns Aussage ist "leicht populistisch"
"Wir Muslime werden in seiner Aussage weder als Person noch als Akteure oder Individuen wahrgenommen. Auch nicht als heterogene Gruppe", so Journalistin Kayikci. Sie wolle von Kretschmann hören, was er genau unter "dem" Islam verstehe. "Meint er damit alle Muslime in Deutschland? Oder die verschiedenen islamischen Strömungen, die es alle in Deutschland gibt?", fragt Kayikci. Außerdem sei ihr nicht schlüssig, warum eine Reform nicht auch von anderen Religionen gefordert werde, sondern nur vom Islam.
Kretschmann sieht im Islam vor allem folgendes Problem: Es sei demnach einzusehen, dass die Ordnung der politischen Angelegenheiten Menschenwerk sei und nicht von Gott gemacht. Dies sei ein epochaler Fortschritt gewesen, sagte er. Es bedeute, dass man selbst verantwortlich sei und sich nicht "hinter dem lieben Gott verstecken" könne. "Im Islam gibt es dieses Denken überhaupt nicht - und das ist eines seiner großen Probleme", sagte der Grünen-Politiker.
Dass ein Ministerpräsident so eine Aussage treffe, sei für sie zudem ein Signal: "Er vertritt uns Muslime nicht", kritisiert Kayikci. Er rede nicht wie ihr Ministerpräsident und integriere auch nicht die muslimische Bevölkerung in seine Arbeit. "Es ist eine plakative, leicht populistische Aussage. Er redet so, als wären wir nur irgendwelche externe Akteure mit denen er in Verhandlung tritt", so die junge Journalistin.

Integration oder Assimilation?
Für die junge Journalistin Kayikci sei aber auch vor allem "Integration" ein blödes Wort. "Ich bin hier geboren. Ich muss mich nirgends integrieren. Da ist kein Defizit das ich ausgleichen muss", so Kayikci. Das Wort Integration impliziere nämlich, dass irgendwas fehle. Ähnlich sei es mit dem Islam. "Der passt überall hin. Der Islam muss nicht explizit zu Deutschland passen, solange er im Rahmen der gesetzlichen Schranken gelebt wird. Und das tun wir alle", so Kayikci.
Auch Muhsin Omurca stört sich an dem Begriff Integration. Ob der Islam jetzt integriert sei oder nicht, hänge davon ab, was wir unter Integration verstehen. "Ich bin der Meinung, dass die Deutschen etwas anderes darunter verstehen als die Migranten. Die Deutschen verstehen Integration eher als Assimilation", so Omurca. Der 52-jährige gebürtige Türke ist Kabarettist und beschäftigt sich bereits seit 36 Jahren mit dem Thema Integration. Er gilt außerdem als Begründer des Begriffs "biodeutsch" und hat 1986 in Ulm das erste deutschsprachige türkische Kabarett gegründet.
Natürlich gebe es Probleme seitens der Migranten, die man nicht ignorieren darf. "Ein Schritt in die Wohnung und du bist in der Türkei!". So beschreibt Omurca gegenüber dem SWR die Wohnviertel in Frankfurt Gallus oder in Duisburg-Marxloh, Deutschlands bekanntestes Problemviertel. Omurca trat erst diese Woche in Duisburg auf. "In dem Saal hatte ich sehr viele Zuschauer mit Migrationshintergrund. Ich habe schon in den ersten 15 Minuten festgestellt, dass sie mich überhaupt nicht verstanden haben", so Omurca. Unter ihnen seien nicht nur Vertreter der ersten Generation gewesen, sondern auch jüngere Menschen um die 40. "Ich war sehr verwirrt über die schlechten Sprachkenntnisse", so der Comedian. Omurca sei deshalb für ein türkisches und arabisches TV-Programm, welches von den deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern produziert wird. "So erreichen wir die Menschen besser."
Kretschmanns Islam-Kritik ist "verletzend" und "gefährlich"
Der Satz "der Islam sei nicht wirklich integriert", sei schon sehr verletzend, findet Abdel-Hakim Ourghi - Islamwissenschaftler aus Freiburg. "Wenn man zumindest darauf eingehen würde, dass eine bestimmte Gruppe Schwierigkeiten mit der Integration hat, dann kann ich das nachvollziehen. Dazu gibt es verschiedene Gründe", so Ourghi. Aber wie könne sich eine ganze Religion integrieren? Außerdem könne solch eine Aussage sehr gefährlich sein, fügt er hinzu. "Vom rechten Lager kann so eine Aussage übernommen werden. Sie fühlen sich durch solche Äußerungen bestätigt in ihren islamfeindlichen Überzeugungen", sagt er.
"So eine Aussage ist für mich verletzend. Ich tue alles, um mich zu integrieren."
Yussef Alkheder ist vor sechs Jahren aus Syrien als Geflüchteter nach Deutschland migriert. "So eine Aussage ist auch für mich verletzend. Ich tue alles um mich zu integrieren", sagt der 25-jährige Syrer dem SWR. Innerhalb von sechs Jahren habe er die deutsche Sprache erlernt, betont er. "Sprache ist für mich mit das Wichtigste, wenn es um Integration geht. Außerdem arbeite ich, ich zahle Steuern", sagt er. Auch andere Flüchtlinge, die er kenne, können die Sprache, sind fleißig und arbeiten, sagt der gläubige Moslem dem SWR. Den wichtigsten Wert, den er von seiner Familie mitbekommen habe, sei Respekt, sagt er. "Man muss das trennen. Religion ist Religion. Mensch ist Mensch. Und auf den kommt es am Ende bei politischen Debatten und bei der Integration an", sagt er.
Kritik an "konservativen, politischen Dachverbänden"
Kretschmanns Aussage sei außerdem ein Widerspruch. "Einerseits wird gesagt, der Islam sei nicht integriert. Gleichzeitig arbeitet aber die Koalition mit den Dachverbänden zusammen, die den Reformislam bekämpfen." Es gehe hier aber um ein Islamverständnis. "Wir haben konservative muslimische Dachverbände, die politisch sind und aus dem Ausland unterstützt werden. Mit solchen Verbänden arbeitet die Landesregierung in Stuttgart zusammen", kritisiert Ourghi. Es brauche einen Islam der liberal und reflektiert sei, so Ourghi. "Diese Reform sei aber bereits in den Reformschulen in Münster und in Freiburg zu Gange", so der Wissenschaftler, der sich seit Jahren für einen liberalen Islam in Deutschland einsetzt.
Politiker in der Verantwortung
Die Debatte, ob der Islam und die Muslime zu Deutschland gehören, sei nicht neu. Dass Herr Kretschmann jetzt noch die Integrationsdebatte entfacht, mache die Sache auch nicht besser. "Ausgerechnet Politiker, die die Verantwortung dafür tragen, dass alle Bevölkerungsschichten mit verschiedenen Kulturen, Religionen in Frieden miteinander leben und das Gefühl zu vermitteln haben, dass alle dazugehören, sorgen leider gerade für das Gegenteil", kritisiert Soylu.
Integration sei ein gegenseitiger gesellschaftlicher Prozess der Teilhabe, der Akzeptanz auf Augenhöhe und des Mitwirkens auf allen Ebenen. "Diesen Prozess sehen wir im Bezug auf die Muslime leider gerade in Deutschland nicht. Dazu tragen auch solche Debatten bei, dass es nicht funktioniert", so Soylu.