"Corona Sperrzone" steht auf einem Schild am Eingang der Covid-19 Intensivstation (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow)

Omikron-Welle in Baden-Württemberg

Mit oder wegen Corona im Krankenhaus? So bedingt aussagekräftig sind die BW-Daten

Die Hospitalisierungsinzidenz sollte bislang sowohl Krankheitsschwere als auch Klinikbelastung anzeigen. Das könnte bald nicht mehr funktionieren - für die Omikron-Welle ist sie ein zu grobes Messinstrument.

Die Hospitalisierungsinzidenz ist derzeit maßgeblich für die Corona-Maßnahmen in Baden-Württemberg. Nun allerdings gibt es Zweifel daran, ob sie in der Omikron-Welle weiter aussagekräftig ist - wie die folgende SWR-Datenanalyse zeigt.

Seit Beginn der Omikron-Welle haben baden-württembergische Kliniken rund 2.000 coronapositive Patienten gemeldet. Laut SWR-Analyse sind rund 60 Prozent dieser coronapositiven Klinikpatientinnen und -patienten der vergangenen drei Wochen zur Behandlung einer akuten Covid-19-Erkrankung in Krankenhäuser eingewiesen worden. Rund zehn Prozent der gemeldeten Patienten waren zwar coronapositiv, kamen aber aus anderen Gründen und wurden erst in der Klinik positiv getestet. Für rund dreißig Prozent dieser Patienten gibt es keine Angabe, ob die Covid-19-Erkrankung Haupt- oder Nebendiagnose ist.

Aber: Selbst wenn nur die nachweislich an Covid-19 erkrankten Patienten gezählt werden, liegt die Hospitalisierungsinzidenz aktuell über dem Schwellenwert für die "Alarmstufe". Die Omikron-Welle produziert Tag für Tag neue Höchstwerte bei der Sieben-Tage-Inzidenz. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen mit Covid-19 insgesamt ist aber geringer als im Dezember - als die Delta-Variante noch vorherrschend war.

Wie schwer erkranken Menschen in BW durch Omikron?

Um die tatsächliche Krankheitsschwere, die die Omikron-Welle auslöst, besser beurteilen zu können, soll das Meldesystem verbessert werden, so das baden-württembergische Sozialministerium. Man wolle nun stichprobenartig erheben, welche Patientinnen und Patienten mit und welche wegen Covid-19 im Krankenhaus sind. Die SWR-Analyse zeigt allerdings auch: Die Klinikeinweisungen bleiben trotz der extrem hohen Inzidenzen deutlich unter denen der vorherigen Wellen der Pandemie.

Und auch die Intensivstationen sind nicht mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten überlaufen. Ist das nun der Beleg dafür, dass die Omikron-Welle die Krankenhäuser in Baden-Württemberg nicht überlasten wird? Oder wird die Qualität der Daten schlechter, weil Omikron die alten Maßstäbe sprengt?

Fakt ist: Die neue Virus-Variante stellt gelernte Muster der Pandemie auf den Kopf. Und sie wirft die Frage auf, ob die alten Kennzahlen noch geeignet sind, um das Infektionsgeschehen zu überwachen - Zahlen, die entscheidend dafür sind, welche Corona-Maßnahmen im Land greifen. Wie kann man unter diesen Umständen verlässlich messen, wie stark das Gesundheitswesen durch die Corona-Pandemie belastet ist?

Mit oder wegen einer Corona-Infektion im Krankenhaus?

Zwei Zahlen bestimmen aktuell darüber, welche Corona-Maßnahmen in Baden-Württemberg greifen. Eine gibt an, wie viele Menschen auf den Intensivstationen im Land behandelt werden und die Diagnose Covid-19 erhalten haben.

Die zweite Zahl ist die Hospitalisierungsinzidenz. Jeder Patient, der wegen Covid-19 ins Krankenhaus kommt oder dort positiv auf das Coronavirus getestet wird, ist meldepflichtig. Der behandelnde Arzt füllt dafür ein Formular aus, auf dem zahlreiche Angaben gemacht werden. Und diese Meldung muss dann innerhalb von 24 Stunden nach der Aufnahme in der Klinik beim Gesundheitsamt vorgelegt werden. Aus diesen Meldungen wird dann eine Summe gebildet, über die letzten sieben Tage. Und ähnlich wie bei der Infektionsinzidenz wird sie ins Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt. Am 3. Februar lag die Hospitalisierungsinzidenz in Baden-Württemberg bei 6,5, während 272 Covid-19-Fälle in intensivmedizinischer Behandlung waren.

Weil das Coronavirus bei einer Covid-19-Erkrankung alle Organe angreift, ist die Frage bei Schwerkranken unerheblich, ob Covid-19 Haupt- oder Nebendiagnose ist. Zumindest wenn man Christian Karagiannidis folgt. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz Divi. Karagiannidis sagte jüngst dem "Spiegel", Covid-19 sei eine Erkrankung des ganzen Systems - bei Schwerkranken sei eine reine Nebendiagnose gar nicht möglich, jedes Organ könne betroffen sein, der Krankheitsverlauf werde erheblich beeinflusst.

Aktuell zeigt sich eine Seitwärtsbewegung der #COVID19 Neuaufnahmen auf die Intensivstationen. Unter #Omikron geht der Anteil der Patienten mit Atemunterstützung von 90 auf 80% zurück, d.h. weniger Patienten mit schwerer Lungenentzündung. CAVE: COVID bleibt eine Systemerkrankung https://t.co/pFy23wyffz

Wie aussagekräftig ist die Hospitalisierungsinzidenz?

Im Gegensatz zur Zahl der Covid-Patientinnen und -Patienten auf den Intensivstationen kann man bei der Hospitalisierungsinzidenz berechtigterweise die Frage stellen, ob eine feinere Unterscheidung nicht sinnvoll wäre. Ob nicht zusätzlich unterschieden werden sollte zwischen coronapositiven Menschen, die wegen einer anderen Hauptdiagnose im Krankenhaus sind und bei der Routineuntersuchung positiv getestet wurden, und jenen Patientinnen und Patienten, die wegen der Hauptdiagnose Covid-19 ins Krankenhaus kamen.

Zwar ist der Aufwand für das Klinikpersonal bei jedem coronapositiven Patienten hoch - Isolation, Hygienemaßnahmen, Schutzkleidung - doch soll es bei der Hospitalisierungsinzidenz ja nicht allein um die bloße Auslastung der Kliniken gehen. Der Wert soll auch anzeigen, wie schwer Menschen durch die Omikron-Variante an Covid-19 erkranken. Wenn Covid-19 nur eine Nebendiagnose ist, müsse das nicht unbedingt bedeuten, dass die Infektionen weniger gravierend sind, betont Thilo Walker vom Sozialministerium Baden-Württemberg. Wenn jemand zum Beispiel wegen einer Lungenerkrankung eingeliefert werde, und zusätzlich coronapositiv sei, sei er trotzdem ein klassischer Corona-Patient. Dazu komme die Patientenversorgung mit aufwendigen Hygienemaßnahmen. Die Hospitalisierungsinzidenz zeige laut Walker weiterhin die Belastung des Gesundheitssystems an und soll deshalb ein wichtiger Indikator für das Stufensystem bleiben.

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Aber der Indikator - die Hospitalisierungsinzidenz - ist eine sehr grobe Erhebung. Sie versucht zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: nämlich die Krankheitsschwere und die Klinik-Belastung gleichzeitig anzuzeigen. Erstens: Wie viele Menschen erkranken so schwer, dass sie ins Krankenhaus müssen? Und zweitens: Wie viel Aufwand machen die Corona-Patienten in den Kliniken? Angesichts der veränderten Spielregeln durch die Omikron-Variante ist dieser Indikator zu grob.

Die Omikron-Variante vergrößert die Probleme mit den Daten

Warum ist das so? Die Omikron-Welle entwickelt sich ganz anders als die vorherigen Wellen der Corona-Pandemie. Die Inzidenz liegt im vierstelligen Bereich, es gibt also enorm viele Infizierte in der Bevölkerung - zweieinhalb Mal so viele als im Dezember. Zumindest nach den Meldezahlen. Womöglich - berechnet man die Dunkelziffer mit ein - sind aktuell sogar drei bis vier Mal so viele Menschen infiziert als im Dezember.

Zugleich zeigen die Daten, dass es aktuell nur ein Drittel der Hospitalisierungen in Baden-Württemberg gibt, die es noch im Dezember gab. Auch die Zahl der Intensivpatientinnen und -patienten mit Covid-19-Diagnose ist gesunken: Aktuell auf die Hälfte des Werts vom Dezember. Das ist erstmal eine gute Nachricht - Omikron scheint tatsächlich weniger schwere Erkrankungen auszulösen. Die andere Seite der Medaille ist aber, dass das bisherige Messbesteck nicht mehr ganz passend ist. Die Daten, auf die sich die Maßnahmen im Stufenplan der Corona-Verordnung stützen, werden mit zunehmendem Voranschreiten der Omikron-Welle weniger aussagekräftig.

Hospitalisierungsinzidenz verliert langsam an Aussagekraft

Der Effekt ist zwar noch nicht so stark wie zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, wächst aber in den vergangenen zwei Wochen.

Im Vergleich zur vierten Welle im November und Dezember ist der Anteil der gemeldeten Krankenhausaufnahmen, für die entweder nur ein "mit Corona" gilt oder für die keine Angabe des Grundes vorliegt, stark gestiegen. Während im November und Dezember 75 Prozent der Meldungen klar "wegen Corona" eingingen, liegt dieser Anteil nun bei weniger als 60 Prozent. Die Meldequalität oder Meldegenauigkeit ist das Problem: Vor allem der Anteil ohne Merkmal, also ohne Angabe des Grundes der Krankenhausaufnahme, ist gestiegen, von 20 auf jetzt 30 Prozent. Der Anteil von "mit Corona" infiziert, aber nicht an Covid-19 erkrankt, ist von rund 5 auf mehr als 10 Prozent gestiegen.

Das heißt: Aktuell steckt noch viel Aussagekraft über die Krankheitslast in der Hospitalisierungsinzidenz. Aber: Jeden Tag mit Omikron verliert sich offensichtlich diese Aussagekraft.

Verzerrung und Meldeverzug

Hinzu kommt, dass die Berechnungsmethode für eine Verzerrung in den Daten sorgt. Denn: Nur wer innerhalb der letzten sieben Tage ins Krankenhaus eingeliefert und auch innerhalb dieser sieben Tage coronapositiv getestet wurde, wird auch gemeldet und in den Daten als aktuell Erkrankter aufgeführt. Wer dagegen beispielsweise vor neun Tagen coronapositiv getestet und drei Tage später ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weil er oder sie Probleme mit der Atmung hatte, wird als Nachmeldung registriert und fließt nicht in die aktuellen Daten ein.

Das Problem dabei: Potenziell schwerere Covid-19-Verläufe wie der zuletzt geschilderte werden so von den Kliniken nicht als aktuelle Fälle gemeldet. Wer schon länger coronapositiv ist und aufgrund sich verschlimmernder Symptome erst einige Tage später ins Krankenhaus kommt, taucht erst als Nachmeldung auf. Dagegen wird ein Patient mit gebrochenem Arm, der bei der Routineuntersuchung im Krankenhaus coronapositiv getestet wird, als aktueller Covid-19-Fall gemeldet. Er fließt also in die aktuelle Hospitalisierungsinzidenz ein.

Anders ausgedrückt: Coronapositive Patientinnen und Patienten mit einer anderen Hauptdiagnose prägen zunehmend die Kurve der Hospitalisierungen, während potenziell schwerere Covid-19-Verläufe als Nachmeldungen gelistet werden.

Und oben drauf kommt der Meldeverzug, der bei der Hospitalisierungsinzidenz von Anfang an ein Problem war: Die Klinik muss ein Papierformular per Fax an das zuständige Gesundheitsamt schicken. Dieses Fax muss ein Sachbearbeiter im Gesundheitsamt bearbeiten und in der Datenbank suchen, ob dieser Patient oder diese Patientin schon als Infektionsfall angelegt ist. Papiermeldung per Fax, die Belastung von Klinken und Gesundheitsämtern zusammen - all das macht das Meldesystem extrem träge.

Ein Sprecher des Sozialministeriums von Baden-Württemberg schreibt hierzu auf SWR-Anfrage, "bei dem momentanen sehr hohen Fallaufkommen besteht ein zum Teil längerer Rückstau an Fällen".

Bundesgesundheitsminister kündigt neues Meldesystem an

Am Freitag vor einer Woche (28. Januar) hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt, zeitnah eine Lösung für dieses Problem mit den Daten präsentieren zu wollen. Dann sollen Haupt- und Nebendiagnosen von Patientinnen und Patienten tagesaktuell erfasst und zentral gesammelt werden. So könnten möglicherweise die Gesundheitsämter entlastet und zugleich die Datenqualität verbessert werden.

Laut Sozialministerium hat sich Baden-Württemberg beim Bund "schon früh" dafür ausgesprochen, den Fokus nicht allein auf die Hospitalisierungsinzidenz zu richten, sondern stärker die Auslastung der Intensivbetten zu betrachten. Und man räumt ein, dass die Aussagekraft der Hospitalisierungsinzidenz stark davon abhänge, dass "sowohl die Kliniken als auch die Gesundheitsämter die Daten schnell und vollständig melden". Auch deshalb habe man sich beim Bund dafür eingesetzt, das Meldesystem beim RKI zu verbessern. Denn das Problem mit den Krankenhausdaten, die Aufschluss über die Schwere der Pandemie geben sollen, sei ein bundesweites.

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