Wenn Elsa Koch von ihrer Flucht erzählt, dann muss sie heute noch weinen. Sie war neun Jahre alt, als sie ihre ungarische Heimat im November 1944 verließ. Auf einem Viehwagen fuhr sie mit der Mutter zum Bahnhof, Hund Daxi blieb zurück. "Der hat geheult, und ist uns nachgesprungen, und ich hab gesagt: Daxi, gang doch Heim! Wir kommen doch wieder!" Schließlich gab der Hund auf, blieb stehen und schaute ihnen nach, erzählt Elsa Koch mit Tränen in den Augen. "Und den sehe ich heute noch vor mir: Wie er dagestanden ist, den Kopf so schräg."
Er muss mehr gewusst haben als Elsa Koch, ihre Schwester und die Mutter, die sich nur vor der durchziehenden russischen Armee verstecken und zurückkommen wollten. Sie kamen nicht wieder, stattdessen waren sie eineinhalb Jahre auf der Flucht. Über Stationen in der Steiermark und in Ulm gelangte Elsa Koch mit ihrer Mutter und der Schwester schließlich nach Staig (Alb-Donau-Kreis). Hier wohnt sie noch heute.
Flucht oder Vertreibung?
Etwa 12 Millionen Deutsche sahen sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gezwungen, ihre damalige Heimat in Polen, Ungarn, Tschechien oder Rumänien - den "Ostgebieten" - zu verlassen. Viele von ihnen sind geflohen, wie Elsa Koch. Manche wurden mit Abzug der deutschen Truppen noch evakuiert, andere später aufgrund ihrer deutschen Identität aus ihren Häusern vertrieben oder zur Arbeit in Arbeitslagern gezwungen - auch als Rache für die Verbrechen der Nationalsozialisten während des Krieges. In der frühen Nachkriegszeit war fast ausschließlich von "Vertreibung" die Rede, weil sich daran politische Forderungen nach einer Rückgabe der verlorenen Häuser und Gebiete knüpften.
Die Betroffenen, die Flüchtlinge und Vertriebenen, sprachen meist gar nicht über ihre Erlebnisse. "Ich wollt' kein Flüchtling sein", sagt Elsa Koch in breitem Schwäbisch. Inzwischen hat sie sich angepasst, schließlich lebt sie seit über 70 Jahren in der neuen Heimat in Staig. Jahrelang gehörte sie jedoch nicht dazu, wurde von ihren Mitschülern ausgelacht, von der Dorfbevölkerung verurteilt und abgewertet.
Das Schweigen brechen
Im SWR Aktuell Mondial Podcast erzählen mehrere ehemalige Vertriebene und Flüchtlinge ihre Geschichten. Die erste Folge der Reihe "Vertriebene in Baden-Württemberg" mit Heiderun Gödrich:
Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland
Die Neuankömmlinge waren im Nachkriegsdeutschland, in dem Armut und Hunger herrschten, meist nicht willkommen. In den Anfangsjahren wurden sie der örtlichen Bevölkerung zugewiesen, weil sonst kein Wohnraum verfügbar war. Sie bekamen einzelne Zimmer oder Kammern auf dem Dachboden bei Familien, die ihnen fremd waren. Ein Zusammenleben, das beide Seiten forderte und häufig zu Konflikten führte.
Elsa Koch ging es bei dem Bauern, dem sie zugewiesen wurden, vergleichsweise gut, sagt sie. Aber Heiderun Gödrich, die mit ihrer Mutter, den Großeltern und drei Kindern aus dem heutigen Tschechien in die Nähe von Lörrach floh, lebte fortan auf dem Dachboden und schlief auf Stroh auf dem Fußboden, weil nur die Erwachsenen Bettgestelle hatten.
"Wenn wir zur Decke geguckt haben, haben wir die Dachziegel von unten gesehen", sagt sie heute. "Und der Winter, das war ein ganz kalter Winter, da ist der Atemhauch an der Bettdecke vorne gefroren. Wenn ich aufgewacht bin, war vor mir auf der Bettdecke eine Eisschicht." Den Bauern, bei denen sie lebten, mussten sie im Stall und bei der Feldarbeit helfen - und bekamen dennoch kaum etwas zu essen, sagt sie.
Integration in der neuen Heimat
Dietmar Seidenkranz, der aus Neuwedell in Pommern, dem heutigen Polen, nach Schorndorf (Landkreis Stuttgart) floh, hat stückweise Anerkennung erfahren: "Wenn die Menschen gesehen haben: Die Leute schaffen, die Leute arbeiten, dann haben die uns schon auch Chancen gegeben. Dann haben sie uns schon auch akzeptiert."
Elsa Koch hat länger gebraucht: Jahrzehntelang hat sie nicht über ihre Vergangenheit gesprochen - obwohl sie im Urlaub immer wieder nach Ungarn fuhr und die Erinnerung an ihre Heimat immer da war: Über ihr, auf ihrem Dachboden, stand ein kleiner, abgeschlagener Pappkoffer.
Darin verwahrte sie Briefe des Vaters, der nie aus dem Krieg zurückgekommen war, Fotos aus Kindertagen und alte Schulbücher. "Das ist mir heute noch wichtig, dass mir das eingefallen ist, dass ich die mitnehme", sagt sie. Der Koffer sei ihr "ein kleines Stückchen Heimat." Regelmäßig stieg Koch hinauf, öffnete den Koffer und versank in Erinnerungen.
Deutsche Erinnerungskultur
In der Öffentlichkeit war für das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus Ost- und Mitteleuropa kaum Platz, obwohl jeder Fünfte Baden-Württemberger im Jahr 1961 dieses Schicksal teilte. Das mag daran gelegen haben, dass sich Deutschland vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Rolle des Aggressors auseinandersetzen musste. Aber auch daran, dass die politische Haltung der Vertriebenenverbände, in denen sich viele der Flüchtlinge und Vertriebenen organisierten, problematisch war: Noch unter Erika Steinbach, die bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen war, pochten sie auf eine Rückgabe der ehemaligen Gebiete an Deutschland. Dabei lebten in den Häusern längst Menschen, die im Krieg teilweise selbst ihr Zuhause verloren hatten.
Zwischen Nationalismus und "Brücken bauen"
Auch der "Tag der Heimat", der in Baden-Württemberg dieses Jahr am 18. September begangen wird, entstand in dieser Tradition. Er geht zurück auf eine Kundgebung vor dem Stuttgarter Schloss am 6. August 1950, bei der die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verkündet wurde.
In diesem Jahr steht der "Tag der Heimat" unter dem Motto "Vertriebene und Spätaussiedler: Brückenbauer in Europa". Damit stellen die Organisatoren die vereinende Kraft von Menschen mit Migrationsbiographien heraus. Denn viele ehemalige Vertriebene und Geflüchtete halten Kontakte zwischen verschiedenen Ländern und Nationalitäten aufrecht.
Sprechen über die Flucht
Elsa Koch hat kurz vor ihrer Rentenzeit begonnen, über die eigene Flucht und den Heimatverlust zu sprechen und seitdem auch Freunde aus der neuen Heimat nach Ungarn mitgenommen.
Wie es dazu kam? "Wahrscheinlich bin ich selbstbewusster geworden", sagt sie. "Das war auf einmal, wie wenn man den Schalter umlegt. Da habe ich gedacht: Das ist mein Leben, das ist mein Weg." Damals hat sie ihren Koffer auch ins Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm abgegeben. Damit die Erinnerung auch dann bleibt, wenn sie nicht mehr da sein wird.