Die Björn Steiger Stiftung mit Sitz in Winnenden (Rems-Murr-Kreis) will eine grundlegende technische und rechtliche Erneuerung des Rettungsdienstes erwirken. Dafür hat sie nach eigenen Angaben am Donnerstag Verfassungsbeschwerde gegen das Land und die Bundesrepublik Deutschland eingelegt. Der Gang nach Karlsruhe hat zwei Kernpunkte: Die Stiftung kritisiert, dass der Bund seiner Aufgabe, die Notfallversorgung sicherzustellen, nur unzureichend nachkomme. In ihren Augen muss er für ein flächendeckendes Rettungsdienst-System mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards sorgen.
Zum anderen, so die Stiftung, verletze das baden-württembergische Rettungsdienstgesetz vom Juli 2024 das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Klage gegen das Land Baden-Württemberg stehe exemplarisch für alle Bundesländer.
Warum klagt die Björn Steiger Stiftung?
Die Björn Steiger Stiftung setzt sich für die Verbesserung der Notfallhilfe und Rettungsdienstes ein. Sie kritisiert schon länger die Notfallversorgung in Deutschland, bei der sie große Mängel sieht. Ihre Verfassungsbeschwerde begründet sie mit systemischen Missständen im Rettungsdienst. Ziel sei die Feststellung, dass die jetzige Regelung gegen das Grundgesetz verstößt - um dann eine bundesweite Verbesserung in Angriff nehmen zu können.
"Unsere Beschwerde richtet sich nicht gegen die Rettungskräfte, sondern gegen die Rahmenbedingungen, die ihre Arbeit erschweren und damit die Sicherheit der Bevölkerung gefährden", betonte der Präsident der Stiftung Pierre-Enric Steiger.
Verfassungsbeschwerde auch gegen das Land Baden-Württemberg
Die Kritik der Stiftung richtet sich vor allem gegen den Bund. Der komme seiner Fürsorgepflicht nicht nach, wenn er es verpasse bundesweit einheitliche Standards vorzugeben - auch wenn die Bundesländer für das Rettungswesen zuständig sind.
Die Beschwerde zielt aber auch auf Baden-Württemberg, weil das Land mit seinem neuen Rettungsdienstgesetz exemplarisch für die Probleme in allen anderen Bundesländern stehe. Aus Sicht der Björn Steiger Stiftung stellt es keine Verbesserung dar. Sie kritisiert nicht erst seit Verabschiedung des Gesetzes im Juli 2024, dass die neuen Regelungen eine jahrelange Fehlentwicklung zementiere. Auch das neue Gesetz schaffe es nicht, Zuständigkeiten und Strukturen für Notfälle umfassend zu klären. Zudem entspräche es nicht internationalen Standards.
Aus dem baden-württembergischen Innenministerium heißt es am Donnerstag, es sei bedauerlich, dass "die Björn-Steiger-Stiftung auch gegen das Land Baden-Württemberg eine Verfassungsbeschwerde einreicht, wenn sie in erster Linie den Bund meint". Zudem sei das Land nur zu einer Stellungnahme aufgefordert, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehme.
SPD-Landtagsfraktion: Klage ist Armutszeugnis für Landesregierung
Die SPD-BW-Landtagsfraktion unterstützt die Beschwerde der Stiftung. Der innenpolitische Sprecher der SPD, Sascha Binder, sagte am Donnerstag, die Klage sei ein Armutszeugnis für die BW-Landesregierung. "Sehenden Auges und trotz klarer Warnungen nicht nur von uns als SPD-Fraktion, sondern auch von Verfassungsrechtsexperten ist Innenminister Strobl stur geblieben und hat das Gesetz an die Wand gefahren", so Binder. Jetzt müsse das Bundesverfassungsgericht alles Weitere klären.
"Die Bürgerinnen und Bürger müssen im Notfall die gleichen Überlebenschancen haben, unabhängig davon, in welchem Bundesland sie leben, ob in der Stadt oder auf dem Land." Das ist nach Ansicht von Stiftungspräsident Steiger nicht der Fall. Pläne für eine Neuorganisation des Rettungsdienstes mit bundesweit einheitlichen Standards hatte auch die zerbrochene Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Mit dem Aus der Ampel sind diese Pläne aber hinfällig. SPD-Fraktionschef Andreas Stoch hofft deshalb darauf, dass die kommende Bundesregierung, so sie denn aus SPD und Union zustande kommt, einheitliche Regeln schafft.
Ex-Verfassungsrichter di Fabio sieht erhebliche qualitative Unterschiede
Grundlage der Verfassungsbeschwerde ist ein Gutachten, das der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio vergangenes Jahr für die Stiftung erstellt hat. Darin heißt es, dass Bund und Länder beim Rettungsdienst ihrer Schutzpflicht nicht ausreichend nachkämen. Zwar funktioniere das Rettungssystem in vielen Regionen, aber es gebe erhebliche qualitative Unterschiede in der Fläche. Das zeige sich vor allem bei der Länge der Hilfsfristen, also dem Zeitraum bis zur Ankunft der Rettungskräfte vor Ort.
Das neue Rettungsgesetz in Baden-Württemberg sieht beispielsweise vor, dass Rettungskräfte in 95 Prozent der Fälle innerhalb von zwölf Minuten am Einsatzort sein sollen. Zuvor galt eine Zeitspanne von 10 bis 15 Minuten für Rettungswagen (RTW) - aber selbst die 15-Minuten-Vorgabe wurde in den meisten Landkreisen gerissen. Wie diese Zwölf-Minuten-Frist eingehalten werden soll, sei völlig unklar, so die Stiftung. Leidtragende und Opfer dieses Gesetzes seien neben den Notfallpatienten auch die Mitarbeitenden im Rettungsdienst.
Die SWR-Doku "Notfall Rettung - Wenn die Hilfe versagt" gibt es in der ARD Mediathek:
SWR Doku Notfall Rettung - Wenn die Hilfe versagt
Ein Herzstillstand kann jede:n treffen – es zählt jede Minute. Erstmals hat der SWR auf Datenbasis die Qualität der Notfallrettung analysiert. Eine Spurensuche mit brisanten Ergebnissen.
Rotes Kreuz: Eine falsche Darstellung von Tatsachen
Die Hilfsorganisationen in Baden-Württemberg hatten sich damals eingebracht in das Rettungsdienstgesetz und geben sich heute auf SWR-Anfrage zufrieden mit dem Erreichten. Die vier Rettungsdienste im Land, also Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), Johanniter und Malteser Hilfsdienste, unterstützen die Beschwerde der Stiftung ausdrücklich nicht.
Nach Ansicht von Marc Groß, Geschäftsführer des DRK Landesverbands, hat Baden-Württemberg ein starkes Rettungsdienstsystem. "Es ist eine falsche Darstellung von Tatsachen, wenn das System nicht als leistungsfähig dargestellt wird", so Groß. In Zeiten, in denen es in Baden-Württemberg an Krankenhausbetten und anderen Versorgungsformen mangele, gehen das DRK und seine Partner "an ihre Grenzen und darüber hinaus, um Versorgungslücken aufzufangen".
Björn Steiger Stiftung: Deutsche Leitstellen "unwirtschaftlich, teuer und ineffektiv"
Das Rettungswesen in Deutschlands habe einst zu den modernsten der Welt gehört, so der Präsident der Björn Steiger Stiftung. "Dann sind wir jedoch stehen geblieben. Deutsche Leitstellen sind unwirtschaftlich, teuer und ineffektiv", kritisierte Steiger. Europäische Nachbarn wie Österreich, die Niederlande oder skandinavische Länder verfügten hingegen über moderne Leitstellen, deren Mitarbeiter dank moderner Cloud-Systeme teils sogar im Homeoffice arbeiten könnten. Ein ständiger Datenaustausch gewährleiste schnelle Hilfe und gleiche Qualitätsstandards.

Unterstützung kommt von Bundesärztekammer
Unterstützt werden Piere-Enric Steiger und seine Stiftung von mehreren Notärzten und dem früheren Marburger Bund-Vorsitzenden und Ärztekammer-Ehrenpräsidenten Frank Ulrich Montgomery. "Es ist inakzeptabel, dass der Bund keine einheitlichen Standards im Rettungswesen vorgibt, obwohl dies für Krankenhäuser und den ärztlichen Bereich längst etabliert ist", erklärte Montgomery. Derzeit gebe mehr als 200 Leitstellensysteme, deren Trägerschaft wiederum von den Ländern und Kommunen abhänge. "Es hängt also von der Postleitzahl ab, ob sie gerettet werden oder nicht."
Nun bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht sich mit dem Fall auseinandersetzt. Die Hürden dafür, dass das höchste deutsche Gericht eine Verfassungsbeschwerde annimmt, sind hoch. Dafür muss dem Thema eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommen.