
SWR: Kliniken müssen Intensivpatienten dorthin verlegen, wo noch Platz ist. Sogar Nottransporte nach Schleswig-Holstein über 700 Kilometer sind im Gespräch. Herr Stoch, wie weit sind wir noch von der Katastrophe entfernt?
Andreas Stoch: Ich glaube, man kann jetzt schon davon sprechen, dass wir dicht vor der Katastrophe sind. Denn wir wollten genau das verhindern, nämlich dass Menschen in den Intensivstationen nicht mehr gut behandelt werden können. Herr Wieler vom RKI sagt, es ist fünf nach zwölf. Es muss jetzt dringend gehandelt werden. Wir brauchen dringend wirksame Maßnahmen und auch die Hilfe anderer Bundesländer gerade für die Länder, in denen es hohe Inzidenzen gibt.
Die Alarmstufe gilt, wenn zwei Tage hintereinander 390 Covid-Patienten oder mehr auf baden-württembergischen Intensivstationen liegen. Das lässt sich aber eher nicht darüber lösen, dass man die Menschen einfach solange in andere Länder verlegt, bis diese Zahl unterschritten ist, oder?
Exakt, so ist es. Wir brauchen jetzt strengere Regeln. Das Virus wird im Moment bei der hohen Inzidenz viel zu schnell weiterverbreitet. Wir müssen immer wieder den Menschen sagen: "Lasst euch impfen, ansonsten wird euch das Virus in den nächsten Tagen und Wochen erwischen. Mit schlimmen Folgen für manche Menschen, die eben auf der Intensivstation landen." Wir brauchen auch Kapazitäten für ältere Menschen, bei denen der Impfschutz nachlässt. Und wir brauchen auch, ich sage es ganz deutlich, jetzt schon deutlich reduzierte Kontakte. Das heißt, man sollte sich gut überlegen, ob man unter viele Menschen geht. Denn im Moment ist die Inzidenz so hoch, dass die Übertragungswahrscheinlichkeit leider auch für Menschen, die schon einen Impfschutz haben, zu groß ist. Die Übertragungswahrscheinlichkeit bei Geimpften ist deutlich geringer, aber sie ist eben nicht null. Deswegen bitte ich alle um allergrößte Vorsicht.
Tut die Landesregierung genug, um den Menschen diese Kontaktbeschränkungen schmackhaft zu machen?
Ich habe das Gefühl, dass die Landesregierung in den letzten Monaten ein bisschen zu passiv war. Was das Thema Impfen angeht, hat man Impfzentren geschlossenen - ein großer Fehler aus meiner Sicht. Und was die Möglichkeiten angeht, zum Beispiel den Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen einzuschränken, hat die Landesregierung zu wenig gemacht. Sie könnte das nämlich. Ich glaube, wir müssen in den nächsten Wochen dahin kommen, über 2G zu diskutieren. Das heißt, nur noch Genesene und Geimpfte in bestimmte Bereiche zu lassen. Und möglicherweise, weil auch Geimpfte und Genesene das Virus übertragen können, das sogar noch mit einer Testpflicht zu kombinieren - also 2G-Plus. Denn wenn wir es erreichen wollen, diese hohen Inzidenz zu brechen, brauchen wir jetzt wirksame Maßnahmen und nicht eine Diskussion über Wochen und Monate.
Egal, wie sich Corona entwickelt, die Schulen sollen offen bleiben, sagt Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). Sie hatten dieses wichtige Amt auch mal inne. Würden Sie auch so entscheiden?
Ich habe letzten Herbst schon gewarnt. Da war man auch sehr sorglos und ist dann in eine viermonatige Schulschließung gelaufen. Ich habe seit 15 Monaten die Forderung an die Landesregierung, endlich sichere Konzepte für die Schulen zu entwickeln: Thema Luftfilter, auch mehr Räume, dass Abstände eingehalten werden können. Ich habe das Gefühl, man macht den gleichen Fehler wie letztes Jahr wieder. Man hat jetzt vor den Herbstferien die Maskenpflicht aufgehoben, wo man genau wusste, letztes Jahr im Oktober stiegen die Inzidenzen. Deswegen halte ich den Kurs der Landesregierung im Moment für fahrlässig. Wir wissen, dass wir jetzt schon in einer ganz heiklen Situation sind, in Schulen haben wir teilweise über 800er Inzidenzen. Das heißt, Kinder und Jugendliche stecken sich täglich an. Ich glaube, dass die Landesregierung des Steuer jetzt rumreißen muss. Die Maskenpflicht muss ganz schnell wieder eingeführt werden und man muss ganz genau schauen, ob man Kinder und Jugendliche so einfach dem Virus überlässt. Viele von denen sind ungeimpft und damit ungeschützt.
Die SPD ist in Baden-Württemberg in der Opposition, im Bund aber bald Kanzler-Partei - allerdings abhängig von den Stimmen der FDP. Die sperrt sich auch jetzt noch gegen manche einschneidende Anti-Corona-Maßnahmen. Wie lange kann die SPD das hinnehmen?
Ich hoffe, dass bei allen, die jetzt zukünftig im Bund in dieser Verantwortung sind, vor allem auch bei der FDP, ein Lernprozess eintritt. Da haben einige vor drei, vier Wochen noch einen "Freedom Day" gefordert. Ich setze auf die Macht der Vernunft, dass auch bei der FDP klar ist: Wir brauchen jetzt wirksame Maßnahmen. Die Ampel wird die richtigen Entscheidungen treffen, da bin ich sehr sicher. Olaf Scholz nimmt das Thema sehr ernst. Die SPD war immer im Team Vorsicht, und ich glaube, dass wir im Bund die richtigen Entscheidungen treffen. Aber die Länder müssen diese Entscheidungen dann eben auch umsetzen.
Eher früher als später wird die Alarmstufe in Baden-Württemberg und die 2G-Regel kommen. Sehen Sie auch nur eine theoretische Chance, dass das auch wirksam umgesetzt und von den Behörden kontrolliert wird?
Das ist das Entscheidende. Ich sehe da teilweise in manchen Bereichen wie zum Beispiel der Gastronomie eine sehr laxe Handhabung. Aber ich muss ganz klar sagen, wer jetzt diese Regeln nicht kontrolliert, der riskiert einen kompletten Lockdown. Denn wenn die Krankenhäuser überfüllt sind, dann wird auch in der Gesellschaft das Bedürfnis nach Sicherheit wachsen. Wir wissen, wie es vor eineinhalb Jahren war, und deswegen, glaube ich, sollten wir alle mithelfen, dass die Regeln auch eingehalten werden. Die öffentliche Hand muss dann auch kontrollieren und notfalls auch sanktionieren, wo sich Menschen nachhaltig uneinsichtig zeigen.