Seit dem Winter 20 Patientinnen

Sprechstunde für Opfer von Genitalverstümmelung am Universitätsklinikum Ulm

Stand
AUTOR/IN
Verena Hussong
Verena Hussong (Foto: SWR, SWR - Alexander Kluge)

200 Millionen Frauen und Mädchen sind weltweit laut WHO von Genitalverstümmelungen betroffen. Am Universitätsklinik Ulm gibt es seit einem Jahr dafür eine Spezialsprechstunde.

Eine Patientin der FGM-Sprechstunde, der Sprechstunde für "Female Genital Mutilation" ist der Ulmer Kinderchirurgin Melanie Kapapa besonders im Gedächtnis geblieben. Eine junge Frau, deren Schwestern bei diesem Ritual gestorben sind. Und der sich die Details ihrer eigenen Verstümmelung als Kind ins Gedächtnis gebrannt haben.

Zwei Ärztinnen mit Mundschutz beraten sich - Kinderchirurgin Dr. Melanie Kapapa und Rechtmedizinerin Dr. Ines Ackermann sind zwei der drei Ansprechpartnerinnen der FGM-Sprechstunde am Universitätsklinikum Ulm. (Foto: SWR, Verena Hussong)
Kinderchirurgin Melanie Kapapa und Rechtmedizinerin Ines Ackermann sind zwei der drei Ansprechpartnerinnen der FGM-Sprechstunde am Universitätsklinikum Ulm.

"Sie hat genau beschrieben, wie sie auf den Boden gedrückt und festgehalten wurde. Wie ihr der Mund zugehalten und die Augen zugehalten wurden - von Personen, die sie kannte. Das empfand sie als großen Vertrauensbruch. Sie erzählte, sie habe um sich getreten. Dabei ist die Klinge abgerutscht und sie hätte im Bein Schmerz verspürt. Wir haben die Narbe dokumentiert. Das ist schon sehr bedrückend." 

Anlaufstelle im geschützten Raum

In einem hellen Untersuchungsraum unterm Dach des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Ulm findet die Sprechstunde statt. Eine Untersuchungsliege, eine helle Lampe und ein Wickeltisch stehen darin. Blaue Handschuhe und Lineale zur Vermessung von vernarbten Wunden liegen bereit.

Bei Bedarf können die an der Sprechstunde beteiligte Kinderchirurgin, die Rechtsmedizinerin und die Kinder- und Jugendgynäkologin auch andere Einrichtungen der Uniklinik nutzen, um Säuglinge, Mädchen und Frauen zu untersuchen.

"Genitalverstümmelungen können zu ganz akuten Komplikationen wie massiven Blutungen bis hin zum Verbluten führen."

Der Eingriff bedeutet: Die Klitoris und die Schamlippen wurden teilweise oder komplett entfernt – meist ohne Narkose und unter schlechten hygienischen Bedingungen, so die Ulmer Rechtsmedizinerin Ines Ackermann: "Genitalverstümmelungen können zu ganz akuten Komplikationen wie massiven Blutungen bis hin zum Verbluten führen. Es kann zu Entzündungen führen, die Frauen können langfristig Probleme beim Wasserlassen haben, keine Gefühle mehr beim Geschlechtsverkehr oder Schwierigkeiten bei der Geburt." 

"Die sogenannten Beschneiderinnen haben generell auch ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Und dann gibt es einen familiären Druck."

Eine beschnittene Frau ist "rein", und nur eine reine Frau kann heiraten, so die Vorstellung in Gesellschaften, in denen Mädchen und Frauen genital verstümmelt werden. Selbst wenn es gesetzlich verboten ist, sagt Melanie Kapapa. "Ich glaube, das ist tief verwurzelt in der jeweiligen Kultur. Dann ist es vielleicht auch nicht in allen Ländern bis in jedes Dorf hinein bekannt, dass es verboten ist. Die sogenannten Beschneiderinnen haben generell auch ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Und dann gibt es einen familiären Druck."

Untersuchungsliege in einem Behandlungszimmer - Für erste Untersuchungen steht in der Rechtsmedizin eine Liege bereit, für weitere Untersuchungen - etwa unter Narkose - können die Medizinerinnen auch andere Einrichtungen der Universitätsklinik nutzen. (Foto: SWR, Verena Husson)
Für erste Untersuchungen steht in der Rechtsmedizin eine Liege bereit, für weitere Untersuchungen - etwa unter Narkose - können die Medizinerinnen auch andere Einrichtungen der Universitätsklinik nutzen.

Auch in Deutschland werden Mädchen Opfer von Genitalverstümmelung

Dieser Druck ist oft so groß, dass Mädchen auch noch hier in Deutschland Opfer von Genitalverstümmelung werden. Laut Bundesfamilienministerium waren 2020 rund 67.000 Frauen und Mädchen in Deutschland betroffen. Wer den Schritt wagt, findet Hilfe in der Spezialsprechstunde.

Patientinnen aus Ulm waren bereits hier, aber auch vom Bodensee oder dem Kreis Neu-Ulm. 20 Frauen waren es, seitdem die Spezialsprechstunde angeboten wird. Vor einem Jahr wurde die Spezialsprechstunde geplant, seit dem Winter gibt es das Hilfsangebot.

Auch Betreuer, Behörden oder niedergelassene Ärzte können sich an die Ärztinnen wenden. Diese arbeiten über Fachgebiete und Ländergrenzen hinweg, eine Besonderheit der Ulmer Einrichtung. Die nächsten Sprechstunden für Genitalverstümmelte gibt es in München und in Freiburg.

Auch betroffene Männer können die Spezialsprechstunde nutzen

Die Medizinerinnen dokumentieren die Verletzungen – oft für Asylverfahren im Auftrag des Bundesamtes für Migration. Wenn nötig, vermitteln sie Therapien, untersuchen die Frauen in Narkose und empfehlen Operationen, wenn diese medizinisch notwendig sind. Auch beschnittene Männer mit medizinischen Problemen dürften sich an sie wenden, sagen die Ärztinnen. Wenn es notwendig sei, würden sie diese dann an Urologen überweisen.

Schild mit dem Hinweis Gewaltambulanz - Die FGM-Sprechstunde findet in den Räumen der Gewaltambulanz im Institut für Rechtsmedizin statt. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein Akt von Gewalt. (Foto: SWR, Verena Hussong)
Die FGM-Sprechstunde findet in den Räumen der Gewaltambulanz im Institut für Rechtsmedizin statt. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein Akt von Gewalt.


Trotz aller professioneller Distanz - manche Fälle bleiben im Gedächtnis, sagt Ines Ackermann. "Wir hatten eine Mutter mit mehreren Töchtern, wo die Töchter auf der Flucht nach Europa, in Libyen noch im Flüchtlingslager beschnitten wurden. Die hatten ganz massive Verletzungen und das tut einem einfach weh, gerade wenn das noch junge Mädchen sind." Der Bedarf für die Ulmer Spezialsprechstunde für weibliche Genitalverstümmelung sei da, das habe das erste Jahr gezeigt, sagen die Ärztinnen. Die nächsten Untersuchungen sind bereits vereinbart.

SWR2 Leben Beschnitten – Beryl Magoko auf der Suche nach ihrer weiblichen Identität

Beryl Magoko hat erlebt, dass Genitalverstümmelung nicht nur den Körper, sondern auch das Selbstwertgefühl einer Frau nachhaltig verletzt. Ihre Geschichte verarbeitet sie in einem Dokumentarfilm.

SWR2 Leben SWR2