Bei Kriegsende sind 80 Prozent der Innenstadt von Ulm zerstört. Da finden viele ausgebombte oder enteignete Ulmer Familien eine Notunterkunft in der Wilhelmsburg, einer weitläufigen Festung oberhalb der Stadt. Dort leben bis Sommer 1945 auch rund 1.300 polnische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter von Telefunken. Später kommen Heimatvertriebene aus Südosteuropa hinzu, etwa donauschwäbische Flüchtlinge aus Ungarn.

Kriegsende: Umquartierung in die Wilhelmsburg
"Ich war froh, als der Krieg aus war, wegen der Bombenangriffe“, erinnert sich die 94-jährige Brunhilde Walser, geborene Neuendorf, die Älteste von acht Kindern. Bis kurz vor Kriegsende hält sie als Jungmädel, als Mitglied im BDM, noch die Nazifahne hoch. Heute wundert sie sich, dass sie bis zuletzt geglaubt hat: "Der Hitler hätte noch was und wir gewinnen."
Da fällt ihr der Bruder, Max Neuendorf, ins Wort: "Das war die Verblendung." Als sechsjähriger Bub hat er das Kriegsende damals kaum verstanden. "Dass der Krieg rum war, war mir grad wurscht", sagt der Ulmer Schreiner. Die Entbehrungen danach, der Hunger und die zwangsweise Umquartierung in die Wilhelmsburg haben ihn umso stärker geprägt. "Wir haben schwere Not gelitten, vor allem nach dem Krieg.“

Wilhelmsburg als Notunterkunft im zerbombten Ulm
Binnen zweier Tage musste die zehnköpfige Familie auf Geheiß der Alliierten ihre Wohnung im Ulmer Westen verlassen. Parteigenossen, zu denen auch Vater Neuendorf zählte, wurden enteignet. Dabei sei sein Vater nur unter Druck in die NSDAP eingetreten, weiß Max Neuendorf. Weil man ihm gedroht habe, "sonst streichen wir dir das Kindergeld.“
Mit Händen und Füßen habe sich die Familie 1945 gegen die Enteignung gewehrt, umsonst. Die Eltern und die acht Kinder zwischen drei und 14 Jahren kamen die ersten Tage verstreut bei Bekannten unter. Und danach, mit tausenden anderen Menschen, im Notquartier in der Wilhelmsburg, die 1842 erbaut wurde. Aus den vorhergesagten Wochen wurden sechs lange Jahre, so Neuendorf.

An die 4.500 Menschen in Kasematten und Soldatenkammern
Bis zu 4.500 Menschen fanden nach dem Krieg Obdach in den 900 notdürftig eingerichteten Kasematten und Soldatenkammern der Bundesfestung am Michelsberg. Hinter dicken Mauern wurden behelfsmäßig Holz- und Kohleöfen eingebaut. Fließend Wasser gab es nur im Hof. In den dunklen Gemäuern wuselten anfangs Mäuse, Kakerlaken, sogar Ratten, erinnern sich die früheren Burgbewohner. Wegen der quälenden Bettwanzen habe man den Kammerjäger holen müssen.
Um einen Eindruck von der drangvollen Enge in einem einzigen Wohnraum zu geben, hat Lothar Kneer mit dem Förderkreis Bundesfestung in der Burg einen Musterraum mit alten Möbeln eingerichtet. Bei seinen Führungen über die "Kindheit in der Wilhelmsburg" zeigt er ihn gerne. "Denn junge Leute können sich das heute kaum noch vorstellen," betont Kneer. Auch seine Familie wurde zwangsweise umquartiert. Der genaue Grund ist ihm nicht bekannt. Der Vater war zwar Beamter bei der Wehrmacht, aber wohl kein Parteimitglied.

Polnische Zwangsarbeiterinnen bei Kriegsende im Röhrenwerk
Auf der Wilhelmsburg herrschte nach dem Krieg eine "Gemengelage von Ulmern und Flüchtlingen", erklärt Ulrich Seemüller, der stellvertretende Leiter des Ulmer Stadtarchivs. Außerdem lebten bis Sommer 1945 auch rund 1.200 polnische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in der Bundesfestung. Denn die Nazis hatten sie samt dem gesamten Telefunken-Werk ein Jahr zuvor aus Lodz nach Ulm verlagert.
Unter "sehr, sehr schweren Arbeitsbedingungen" mussten sie hier bis kurz vor Kriegsende Röhren für Funkgeräte und Radios produzieren. All das unter dem Tarnnamen "mechanische Werkstätten", weil die Alliierten das Werk sonst womöglich bombardiert hätten.
"In dem Maße, in dem die Zwangsarbeiter das Lager geräumt haben, kamen dann ausgebombte Ulmer nach oben. Denn man muss sich vor Augen halten, dass die Ulmer Innenstadt zu vier Fünfteln zerstört worden ist." Der Ulmer Stadtarchivar weiß, dass Tausende Wohnungen fehlten. Und so sei es naheliegend gewesen, das weitläufige Areal der Zitadelle hoch über Ulm zu nutzen.

Kriegsende und Kindheit in der Notunterkunft Wilhelmsburg
Die halbdunklen Gänge und bis zu 200 Meter langen Korridore haben bis heute etwas Unheimliches. Doch für die "Burgkinder" wurde das Lager auch zum "Abenteuerspielplatz", erinnert sich Lothar Kneer. Er schwärmt beinahe von seiner glücklichen Kindheit. Im Kasernenhof und rund um die Burg konnten sich die Jungs und Mädels offenbar nach Herzenslust austoben. Es gründete sich sogar eine eigene Fußballmannschaft.

Im Winter sind "wir in den Fluren herumgesprungen und haben Fuchsjagd gespielt", erinnert sich Max Neuendorf. Ohne Schuhe konnte man im Schnee schließlich schlecht draußen spielen. Und es mangelte nach dem Krieg an fast allem. Hosenträger etwa fertigte sein Vater aus Leder selbst. Doch nach und nach etablierte sich die Wilhelmsburg als "Stadt in der Stadt", weiß Archivar Ulrich Seemüller. "Eine vollständige Infrastruktur mit Kindergarten, Läden und Frisör".
Schulkinder mussten anfangs den steilen Burgweg hinunter und wurden in einem Provisorium der Gold-Ochsen-Brauerei unterrichtet. Im Februar 1946 zog dann die Pestalozzi-Schule ins ehemalige Offizierskasino ein. Ab und zu kam sogar ein Kinovorführer in die Burg. Lothar Kneer erinnert sich an Tarzanfilme, die damals beliebt waren.

Kriegsende: Herausfordernder Alltag in den Burgmauern
Für die damals 14 Jahre alte Brunhilde Neuendorf, verheiratete Walser, war das Leben in der Enge der Wilhelmsburg schwer zu ertragen. Um ihre Freundin zu besuchen, musste sie weite Wege in Kauf nehmen und Spießruten laufen, wenn sie heimkehrte. Denn viele der Jungs saßen am Eingang der Burg, um zu schäkern. Sie sei immer wie "ein General" durchmarschiert, so die 94-Jährige heute. Ohne nach links und rechts zu schauen. Das wurde auch ihr ungeliebter Spitzname.
Heute fragt sie sich, wie sie und ihre Schwester sich morgens zurecht gemacht hätten. "Wo haben wir uns die Zähne geputzt und wo haben wir uns gewaschen? Es gab ja nur gemeinsame Waschräume, da sind ja auch Männer ein- und ausgegangen!" Mit einem Lächelnd beteuert die Ulmerin: "Die jugendlichen Jahre haben mir schon gefehlt."
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs scheinen alle mit der Kindheit und Jugend auf der Wilhelmsburg zufrieden. Doch über die Gegenwart zeigt sich Walser besorgt: "Wenn man jetzt sieht, wo überall Krieg ist, das ist schon fürchterlich."