Das Landratsamt Tuttlingen hat zusammen mit dem Kreisklinikum einen Rundbrief an Pflege- und Behinderteneinrichtungen verschickt. Daran angehängt ist ein Formular, worin man seinen Behandlungswillen hinsichtlich einer Corona-Erkrankung im Vorfeld festlegen kann. In der Anlage wird zudem darauf hingewiesen, dass die Erklärung auch unabhängig von einer Patientenverfügung ausgefüllt werden kann.
Versteckte Triage wegen voller Intensivstationen?
Das Schreiben hat hohe Wellen geschlagen. Nach einem Bericht in der "Welt" monieren Kritiker in den sozialen Netzwerken, es erwecke den Anschein, als sollten alte und gebrechliche Menschen im Fall einer schweren Covid-Erkrankung auf eine Behandlung verzichten und die Intensivbetten anderen Kranken überlassen. In dem Brief wird eindringlich auf die angespannte Corona-Situation, die fehlenden Intensivbetten und die Überlastung des Krankenhauspersonals hingewiesen.
"In Anbetracht dieser Situation müssen wir sehr gewissenhaft mit unseren Kapazitäten umgehen."
In der vierten Welle habe man festgestellt, dass vor allem betagte und hochbetagte Menschen, viele mit schweren Begleiterkrankungen, zur akutstationären Behandlung eingeliefert würden. Ein hohes Alter und begleitende Erkrankungen in Verbindung mit einem schweren Krankheitsverlauf seien keine guten Voraussetzungen für eine erfolgsversprechende Behandlung. "Wird eine invasive Beatmung vorgenommen, so hat schon diese eine sehr hohe Sterblichkeit. Selbst wenn diese Phase überlebt wird, ist die Sterblichkeit innerhalb der nächsten Wochen sehr hoch. Das Leiden dieser Menschen unter der Therapie ist groß."
Krankenhausaufenthalte und Notarzteinsätze sollen sorgsam überlegt werden
Nach längeren Ausführungen von Szenarien für hochbetagte Menschen bei einer Corona-Erkrankung auf der Intensivstation werden die Einrichtungen und die Bewohner samt ihrer Angehörigen dazu aufgefordert, sich angesichts der angespannten Lage Gedanken darüber zu machen, ob sie sich tatsächlich invasiv beatmen lassen möchten.
"Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Behandlungsmöglichkeiten im akutstationären Bereich tatsächlich den Menschen - auch denen unter Ihren Bewohnerinnen und Bewohnern - zur Verfügung gestellt werden, die davon profitieren können."
Weiterhin werden die Einrichtungen in dem Brief gebeten, Krankenhausaufenthalte für ihre Bewohner sorgsam zu überlegen, auch wenn ein Notarzt gerufen werden müsse.
"Sie können durch Ihr Handeln sehr viel zur Verhinderung einer Überlastung der zur Verfügung stehenden Behandlungsressourcen beitragen."
Tuttlingen weist Kritik zurück: "Keine Diskriminierung, sondern Fürsorge!"
Zuletzt heißt es in dem Rundschreiben, es sei wichtig, einen Behandlungswunsch zu äußern, um "in letzter Konsequenz Triagen zu vermeiden". Als Solidargemeinschaft seien der Kreis Tuttlingen und das Klinikum auf die Mithilfe der Pflegeeinrichtungen angewiesen.
Auf die Kritik hin erklärt das Landratsamt Tuttlingen: "Durch eine gute Vorbereitung und frühzeitige Gespräche soll eine Triage gerade verhindert werden."
"Es ist unseres Erachtens keine Diskriminierung, sondern Fürsorge!"
Aufklärung zur Vermeidung einer Triage
Das Ziel sei gewesen, vor allem ältere Menschen aufzuklären und zum Nachdenken anzuregen, wie sie im Falle eines schweren Corona-Verlaufs behandelt werden wollen. Hierzu sei es wichtig gewesen, auch die Risiken solcher intensivmedizinischen Behandlungen anzusprechen, erklärt das Landratsamt in einer Stellungnahme, die dem SWR vorliegt. In der Anlage des Schreibens sei vermerkt, dass eine Äußerung freiwillig sei. Laut Landrat Stefan Bär habe sich nur ein Heim kritisch zu dem Schreiben geäußert, außerdem sei ein solches Schreiben bereits im November 2020 versandt worden. Damals habe es keine Reaktionen dazu gegeben.
Der Landkreis Tuttlingen hat nach wie vor landesweit die höchste Inzidenz. Deswegen sei laut Landrat Bär auch kürzlich die Intensivbettenanzahl nochmals erhöht worden. Ein Aufwachraum nach Operationen sei provisorisch zur intensivmedizinischen Behandlung umgestaltet worden.