Man mag seinen Stil missbilligen. Dennoch lässt sich nicht leugnen: Die Bilanz von Boris Palmer als Tübinger Oberbürgermeister scheint zu stimmen. "Boris Palmer hat ein bundesweites Alleinstellungsmerkmal als ein sehr provokativer und polarisierender OB, der aber durch konkrete und gute Kommunalpolitik die Wählerinnen und Wähler scheinbar überzeugt hat", urteilt Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung. Bei einer nicht-repräsentativen SWR-Umfrage unter Tübingerinnen und Tübingern am Mittwoch wurden immer wieder die Erfolge der Stadt bei Wirtschaft und Umweltschutz hervorgehoben. Die Ansicht eines Wählers: Egal, wie man zu seiner Person stehe, er stelle immer das Wohl der Stadt in den Mittelpunkt.
"Tübingen steht wirklich gut da", meint auch Claudia Ritzi, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Trier. "Das allein ist natürlich immer ein Grund für die Bürgerinnen und Bürger zu sagen: Warum wollen wir denn einen Wechsel?"
Er bringt die Stadt voran, heißt es fast einstimmig. Eine nicht-repräsentative SWR-Umfrage unter Wählerinnen und Wähler, warum sie sich für Palmer entschieden haben:
Erfolge beim Klimaschutz und starke Wirtschaft
Die Zahlen scheinen den Bürgerinnen und Bürgern Recht zu geben: Die Gewerbesteuereinnahmen in Tübingen seit 2021 enorm gestiegen (nach einem Rückgang im ersten Corona-Jahr 2020). 53,8 Millionen Euro wurden vergangenes Jahr laut Haushaltsplan der Stadt nach vorläufigem Rechnungsschluss eingenommen - ein Rekordwert in der Geschichte Tübingens. Dem Kreis Tübingen (die Universitätsstadt ist ein Teil davon) bescheinigte die Wirtschaftsberatung Prognos in ihrem Zukunftsatlas zuletzt beste Chancen.
Erfolge kann Tübingen auch beim Klimaschutz nachweisen. Nach Angaben der Stadt sind die energiebedingten CO2-Emissionen Tübingens zwischen 2006 und 2019 in absoluten Zahlen um 30 Prozent gesunken, auf den Pro-Kopf-Betrag umgerechnet durch die gestiegene Bevölkerungszahl um 40 Prozent.
Tübingen will bis 2030 klimaneutral werden
Eine Stadt klimaneutral zu machen, schaffe man nicht in 16 Jahren, betonte Palmer im Wahlkampf. In seiner dritten Amtszeit soll es aber gelingen, 2030 lautet das vom Gemeinderat beschlossene Ziel. Palmer will mehr Strom aus erneuerbaren Energien. Windkraftanlagen sollen auf städtischer Gemarkung gebaut werden. Drei Standorte werden derzeit geprüft, unter anderem im Schönbuch.
Fortschritte beim Klimaschutz und eine solide Wirtschaft: Für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ist Tübingen auch ein Vorbild auf Landesebene. Er sieht die Stadt als Teil einer Gruppe von Kommunen, "die tatsächlich in der Lage sind, wirtschaftliche Prosperität und Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden. Das ist die große Aufgabe, die wir in diesem Jahrhundert haben, vor allem in Baden-Württemberg", sagte er am Dienstag nach der Wahl in Stuttgart. Er sieht in Palmers Sieg auch eine Bestätigung grüner Kernthemen wie dem Klimaschutz.
Eigene Wege in der Corona-Pandemie
In Sachen Corona-Tests nahm Tübingen unter Palmer bundesweit eine Vorreiterrolle ein. Bereits Ende 2020 setzte sich dort Notärztin Lisa Federle für erste anlassfreie Schnelltests in Pflege- und Altenheimen ein. Auf Initiative der Stadt wurden sie ausgeweitet, um das Personal regelmäßig zu testen. Nachdem Land und Bund die Finanzierung nicht übernehmen wollten, sprang die Stadt mit Mitteln von 250.000 Euro in die Bresche.
Auch an Schulen wurde in Tübingen bereits im Februar 2021 getestet, noch bevor es dafür eine rechtliche Grundlage gab. Dem Bayerischen Rundfunk sagte Palmer dazu: "Auf die Erlaubnis zum Nasepopeln warten wir nicht." Ebenfalls durch Schnelltests gestützt wagte Tübingen während des Lockdowns im April 2021 in einem Modellprojekt Öffnungsschritte für Einzelhandel und Gastronomie. Für Negativgetestete wurde die Innenstadt wieder geöffnet.
Mit der Bürokratie nahm es Palmer dabei nicht allzu genau. Das Projekt sei nur möglich, weil man sich nicht an alle Vorschriften halte, sagte er damals dem Deutschlandfunk. In Deutschland mache man "viel nach Vorschrift und für die Pandemie ist das zu langsam".
In der eigenen Partei umstrittener als in der Bevölkerung
Bei seiner Partei sorgte Palmer mit seiner Art immer wieder für Unruhe und Kritik. Im April wollten die Grünen ihn aus der Partei ausschließen. Grund waren umstrittene, teils rassistisch anmutende Äußerungen Palmers. Auch mit Äußerungen zu identitätspolitischen Themen auf Facebook provozierte Palmer immer wieder. Letztlich einigte man sich darauf, seine Mitgliedschaft bis Ende 2023 ruhen zu lassen.
Mit seiner ungewöhnlichen Art scheint Palmer bei seinen Wählerinnen und Wählern jedenfalls zu punkten. Zwar äußern sich die Tübingerinnen und Tübinger in Umfragen teils genervt von Palmers Posts. In der Bevölkerung sei er jedoch weit weniger umstritten als in der Partei, meint auch Politologin Ritzi. "Was die politischen Inhalte und Fragen angeht, gibt es auch in der Bevölkerung eine große Einigkeit."
Auch wenn er im Wahlkampf versöhnliche Töne anschlug, wird Palmer seinem impulsiven Stil treu bleiben. Das vermutete Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung am Tag nach der Wahl:
Pragmatisches Handeln für viele wichtiger als politische Diskussionen
Wolfgang Schweiger, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Hohenheim, beobachtet seit Jahren die Social-Media-Aktivitäten des Tübinger OB. Er glaubt, die identitätspolitischen Themen seien für Palmer "gar nicht so wahnsinnig wichtig" - aber er provoziere gerne und wolle eine Gegenposition innerhalb der Grünen einnehmen, wo diese Aspekte "nach seiner Wahrnehmung einen zu großen Raum einnehmen".
Das Wahlergebnis habe ihn darin in gewisser Weise bestätigt, so Schweiger: "Wenn es eine Stadt gibt, wo man mit solchen Themen punkten könnte, dann müsste das Tübingen sein mit Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften. Wenn selbst in Tübingen ein Boris Palmer, der das genaue Gegenprogramm dazu fährt, damit Erfolg hat – dann zeigt das, dass diese identitätspolitischen Aspekte überschätzt werden von den Grünen."
Die Einschätzung deckt sich mit vielen Kommentaren auf der Facebook-Seite von SWR Aktuell: "Vielleicht sollte man mal einsehen, dass es oft besser ist, pragmatisch zu handeln im Sinne der Bürger, anstatt verbissen an Parteidogmen festzuhalten", schreibt ein Nutzer. "Klar, der Mann hat Ecken und Kanten", meint ein anderer. "Manchmal redet er auch etwas schneller als er nachdenkt. Aber im Großen und Ganzen hat er für Tübingen viel geleistet". Palmer selbst sieht Streitbarkeit durchaus als einen positiven Charakterzug. In "SWR1 Leute" sagte er dazu im Januar vergangenen Jahres: "Denken Sie an eine Ehe. Wenn Sie nicht mehr miteinander streiten, dann ist die in aller Regel vorbei. Und deswegen sollten wir intensiv miteinander streiten. Das muss das Lebenselixier der Demokratie sein."
Am Sonntag wurde Boris Palmer mit 52,4 Prozent der Stimmen im Amt des Tübinger Oberbürgermeisters bestätigt. Er trat als unabhängiger Kandidat an, seine stärksten Konkurrentinnen waren Ulrike Baumgärtner von den Grünen und Sofie Geisel von der SPD (mit unterstützt von der FDP).
Worauf sich Tübingen in der dritten Amtszeit Palmers einstellen können hören Sie in unserer Podcast-Analyse vom Wahlabend: