Die Klasse 9a der Schönbein-Realschule in Metzingen (Kreis Reutlingen) lernt in Mathe gerade, wie dreidimensionale Objekte auf eine Ebene projiziert werden. "Frau Granier, können Sie mir das noch einmal zeigen?", fragt Tom Stiegele. "Natürlich." Ein Mitschüler flüstert dem 15-Jährigen etwas zu. Eine Szene, die alle aus der eigenen Schulzeit kennen - mit dem Unterschied, dass Tom gar nicht im Klassenzimmer ist. Ein kleiner Roboter, ein Avatar, vertritt den krebskranken Schüler seit einigen Monaten im Unterricht.
Avatar seit Weihnachten im Einsatz
Im September wurde bei Tom ein bösartiger Tumor unter dem Auge entdeckt. Es folgten OP, Bestrahlung und bis heute Chemo. Schon kurz nach der Diagnose war für die Schule klar: Einfach nur per Kamera den Unterricht streamen, ist zu wenig. Der 15-Jährige soll am Alltag teilhaben können. "Ich habe schon bisschen was verpasst, weil der Roboter war ja erst an Weihnachten oder so da", sagt Tom am Schreibtisch in seinem Zimmer. Dank seines Avatars fühlt er sich aber jetzt gut vorbereitet.
Für ihn selbst und seine Mitschüler ist der kleine Roboter mittlerweile einfach Tom: "Ich schalte dich jetzt ein", sagt ein Freund am Telefon, der den Avatar morgens in den Unterricht bringt. "Ja, passt", antwortet der junge Metzinger von zuhause aus. "Ok, ich werde eingeschaltet." Die kleinen Wörter "dich" und "ich" zeigen, dass der Avatar mehr bringt als nur eine Teilnahme am Unterricht. Der Roboter macht den 15-Jährigen im Klassenzimmer sichtbar.

Mich freut’s, dass Tom hier beim Unterricht mitmachen kann. Es fühlt sich auch an, als ob er aktiv hier wäre.
Roboter immer häufiger im Unterricht
Zu Beginn hat die Schönbein-Realschule eine Lehrerin für Tom abgestellt, die ihn zuhause unterrichtet hat. "Wir sind auch froh, dass wir keinen Hausunterricht mehr machen müssen", sagt Schulleiter Jürgen Grund. "Wir brauchen die Lehrerstunden ja auch hier in der Schule." Grund hat sich dafür stark gemacht, dass Tom den Avatar zur Verfügung gestellt bekommt. Die Kosten von etwa 5.000 Euro hat die Stadt Metzingen übernommen und den Roboter gekauft.
Die Idee ist nicht neu, die Nutzung von Avataren wird regional allerdings unterschiedlich gehandhabt. In den Kreismedienzentren in Baden-Württemberg stehen insgesamt 75 der kleinen Roboter zur Verfügung. Diese können bei Bedarf ausgeliehen werden. Das passiert mittlerweile nach Angaben des Kultusministeriums immer öfter. 2023 waren es 54 Avatar-Anfragen, 2024 schon 124 und allein in diesem Jahr liegt die Zahl bis März bei 51.
Toms Eltern freuen sich über Unterstützung
Metzingen hat also nun seinen eigenen Roboter, den aktuell noch Tom nutzt. So konnte er während der Bestrahlung im gut 150 Kilometer entfernten Uniklinikum Heidelberg im Unterricht dabei sein und jetzt von zuhause. Bald möchte der 15-Jährige wieder zur Schule gehen. Sein Immunsystem ist von der Bestrahlung jedoch noch zu sehr geschwächt. Im Freien kann er Freunde treffen, aber eben nicht alle.
Ich sehe jetzt nicht jeden draußen, wenn ich mal rausgehe. Und meine Freunde kann ich auch einfach mal hier im Unterricht sehen. Und, ja: das ist für mich sehr wichtig.
Seine Eltern sind davon überzeugt, dass der soziale Kontakt mit den Mitschülern über den Avatar bei Toms Heilung hilft. Für sie war es eine Entlastung, dass die Stadt und die Schule den Avatar organisiert haben. "Wenn man dann einfach auch die Kosten ansieht, war das natürlich auch gschwind ein Schockmoment, wo man sagt: Jetzt hat man natürlich die Krankheit, zusätzlich noch Kosten, die eventuell auf uns zukommen", sagt Vater Thomas Stiegele. "Da war das einfach eine ganz tolle Sache, wie die Leute uns so unterstützt haben."

Schule als Ansprechpartner für Avatare
Die Schönbein-Realschule möchte ihre Erfahrungen mit dem Avatar nun an andere Schulen weitergeben. An der Organisation waren neben der Schulleitung und der Stadt Metzingen noch das Schulamt beteiligt. Schülerinnen und Schüler mussten Datenschutzerklärungen abgeben. "Da hat die Herstellerfirma Vorlagen, die wir verwenden konnten", sagt Schulleiter Grund. Ähnlich handhaben es auch die Kreismedienzentren.
Tom Stiegele ist mittlerweile auf dem Weg der Besserung. Auch wenn es vielleicht komisch klingt, aber der 15-Jährige kann es kaum erwarten, wieder in die Schule zu gehen. "Das kam von ihm aus", versichert Vater Thomas Stiegele. Den Krebs hat sein Sohn schon fast besiegt. Mit dem Realschulabschluss im kommenden Jahr wartet die nächste Herausforderung - dann ohne seinen Avatar.