Es war in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1972: Nach einem Konzert der Band "Ton Steine Scherben" in der Tübinger Mensa, besetzen zahlreiche Jugendliche ein leer stehendes Haus in der Karlstraße in der Nähe des Tübinger Hauptbahnhofs. Das alte Jugendhaus, von der Stadt nur schwer geduldet, brannte ab - aus unerfindlichen Gründen. Die Besetzer sind mit ihrer Aktion erfolgreich: Die Stadt Tübingen gibt nach, mietet das Haus und übergibt die Schlüssel an die jungen Erwachsenen und Jugendlichen.
Namensgeber wurde von der Polizei erschossen
Das Jugendzentrum bekommt den Namen Epplehaus. Zur Erinnerung an Richard Epple, der nur wenige Wochen vorher auf tragische Weise ums Leben kam. Der damals 17-Jährige war ohne Führerschein mit einem Auto unterwegs, geriet in eine Polizeikontrolle und flüchtete. Die Beamten glaubten, dass Epple einer der Terroristen sei, die man in der damaligen Zeit hinter jedem Baum wähnte. Während der Verfolgungsjagd wurde Richard Epple durch mehrere Schüsse von der Polizei getötet.
Nach der Besetzung gestalten und renovieren die Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Haus nach ihren Vorstellungen. Die Außenfassade ist mit zahlreichen Graffiti verziert. Ein Blickfang auch für die Touristen, die am Tübinger Bahnhof ankommen. Das Haus ist wohl das meist fotografierte der Unistadt. Innen setzt sich der beeindruckende Stilmix fort. Die Wände im Haus sind kunterbunt bemalt.
Die Toten Hosen spielten im Epplehaus
Legendär waren in den ersten Jahrzehnten die Punk-Konzerte im "Epple". Viele Bands, die später berühmt wurden, machten die ersten Live-Erfahrungen im Epplehaus, zum Beispiel die "Toten Hosen". In den Räumen finden regelmässig Kreativ-Kurse und politische Diskussionsrunden statt. Im oberen Stockwerk ist eine Holzwerkstatt, um sich künstlerisch auszutoben. Nach einer Corona-Pause gibt es jetzt auch wieder Tanzveranstaltungen und Konzerte.
Epplehaus eigenständig und selbstverwaltet
Jeden Dienstag trifft sich ein Plenum im Epplehaus. Dann wird alles besprochen, was wichtig ist, um das Jugendzentrum am Laufen zu halten: basisdemokratisch, gleichberechtigt, jede Meinung wird gehört. Was dann auch mal länger dauern kann. Die Arbeit im Epplehaus ist ehrenamtlich. Die Stadt Tübingen gibt Geld dafür.
Seit 50 Jahren ist das Epplehaus wie ein Mikrokosmos - eine eigene Gesellschaft innerhalb der Stadtgemeinschaft. Genau das schätzen die Menschen, die regelmäßig im Epplehaus sind. Das Tübinger Jugendzentrum bietet Freiraum, um sich selbst auszuprobieren, abseits der Konventionen. Für viele ist es sozialer Mittelpunkt, um sich mit anderen auszutauschen. Aber auch ein Platz für diejenigen, die sich von der Gesellschaft nicht verstanden fühlen. Wer das Epplehaus nach Jahrzehnten wieder besucht, wird feststellen: Eigentlich hat sich nicht viel verändert. Der Geist der 1970er ist noch spürbar. Trotzdem ist das Epplehaus nicht aus der Zeit gefallen.