Die Reutlinger Innenstadt verliert durch die wöchentlichen Corona-Demos zunehmend an Zulauf. Der Einzelhandel leide massiv unter dem Protestzug, sagte der Filialleiter des Modehaus' Zinser in Reutlingen, Oliver Hohenadel, dem SWR. Auch den Reutlinger Kneipen und Restaurants machen die Demos gegen die Corona-Politik zu schaffen. Die Stimmung sei samstags aufgeheizt, sagte Stefan Löwl, Inhaber des Vis-à-vis in Reutlingen.
Route durch die Innenstadt soll geändert werden
Laut dem Reutlinger Ordnungsamtsleiter, Albert Keppler, habe man sich mittlerweile mit dem Veranstalter auf eine abgeänderte Protest-Route geeinigt. Die Wilhelmstraße, die mitten durch die Reutlinger Innenstadt führt, solle nur noch gekreuzt werden. Man hoffe so, etwaige Beschwerden abwenden zu können. Der Veranstalter habe "großes Verständnis" entgegengebracht. Beide Seiten wollten verhindern, dass "sich etwas hochschaukelt", so Keppler.
Versammlungsrecht ist hohes Gut
Zuvor hatte sich der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck noch entschuldigend an die Gastronomen und Einzelhändler gewandt: "Eine Verlagerung der Demonstration in die Außenbezirke ist rechtlich nicht haltbar." Das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut und vom Grundgesetz geschützt. Die Freiheit, sich zu versammeln, umfasst dabei auch die Wahl des Ortes - zumindest, wenn es sich um öffentliche Straßen, Plätze oder Fußgängerzonen handelt. Die Demonstranten sollen laut Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit erhalten, ihr Anliegen besonders wirksam in die Öffentlichkeit zu tragen, damit ein Kommunikationsaustausch stattfinden kann.
Masken werden von den Demonstranten nicht getragen
Nicht nur Gastronomen und Einzelhändler fühlen sich durch die samstäglichen Aufmärsche gestört, auch Bürger beschweren sich zunehmend, wenn Tausende mit Trommeln, Trillerpfeifen und Musikboxen die Innenstadt in eine Art Partymeile verwandeln. Moritz Siepert, der am Samstagabend ab und zu in Reutlingen in einer Kneipe sitzt, hat die aufgeheizte Stimmung schon am eigenen Leib erfahren.
Als er sich an einem Samstag mit seinen Freunden ein Bild von der Lage am Rand des Demonstrationszug verschaffen wollte, habe ihm ein älterer Mann direkt in die Maske gegriffen. Zudem seien sie von den Demonstranten bedroht und beleidigt worden, und hätten auch gesehen, dass bekannte Neonazis mitmaschieren.
Demonstranten laufen Schulter an Schulter ohne Maske durch die Innenstadt. Auflage der Demonstration ist laut der Stadt Reutlingen eine Maskenpflicht überall dort, wo die Abstände von eineinhalb Metern nicht eingehalten werden können.
"Polizei misst mit zweierlei Maß"
Zur Verwunderung Sieperts seien die Maskenverstöße nicht geahndet worden. Stattdessen habe die Polizei ihn und seine Freunde eingekesselt. Die Polizei messe mit zweierlei Maß. Bei anderen Versammlungen werde härter durchgegriffen, so Siepert.
Seiner Vermutung nach hätten die Beamten das Tragen von Masken als unnötige Provokation der Demonstranten empfunden. Er habe das Gefühl, man wolle die Demonstration möglichst "ohne viel Theater" abhandeln.
Stand mit "Corona-Demo-Produkten" vor Stadthalle
Als besonders kurios erachtete er einen "Merchandising-Stand", den er vor der Stadthalle - hier sind viele Polizeibusse zur Beobachtung der Lage positioniert - entdeckte. Dort seien T-Shirts, Buttons und szenetypische Lebensmittel angeboten worden.
Auf SWR-Nachfrage erklärte der Reutlinger Ordnungsamtsleiter, ihm sei nur einmal ein Stand aus Ulm mit derlei Produkten aufgefallen. Er sei zwar nicht genehmigt gewesen, dennoch habe man ein Auge zugedrückt und ihn das eine Mal geduldet. Zudem seien dort Produkte nur verschenkt worden. Man habe den Stand einfach zu spät bemerkt, da habe sich die Kundgebung an der Stadthalle bereits aufgelöst.
Noch Versammlung oder schon Festival?
Für Siepert haben die Demonstrationen längst den Charakter eines Festivals. Mit öffentlicher Meinungsbildung habe das nicht mehr viel zu tun. Er zieht sogar einen Vergleich zur "Loveparade". Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht der Techno-Veranstaltung erst nach mehreren Jahren den Versammlungscharakter aberkannt und sie als reine Musikveranstaltung eingestuft. Zwar können Musik und Tanz eine Demonstration untermalen, nicht jedoch einziger Bestandteil sein. Sobald der Zweck zur gemeinschaftlichen, öffentlichen Meinungsbildung nicht mehr zu erkennen ist, wird es schwierig.
SWR Reporterin Luisa Sophie Klink war auf der Demonstration am vergangenen Samstag, als rund 7.500 Teilnehmer mit Sprechchören und lauter Musik durch die Innenstadt zogen:
Trotz fallender Corona-Beschränkungen, Anmeldungen bis Juni
Auch wenn Baden-Württemberg noch übergangsweise an der Maskenpflicht und 3G-Regel festhalten will, sieht der Gesetzentwurf der Ampel-Koalition künftig höhere Hürden für Corona-Beschränkungen vor. So sollen nach dem 2. April die Länder beispielsweise nur noch regionale Hotspots festlegen und dementsprechende Vorkehrungen treffen können. Dennoch sind laut der Stadt Reutlingen Corona-Demonstrationen bis in den Juni hinein geplant.