Das multikulturelle Orchester Folklang in Tübingen ist ein Musterbeispiel für gelebte Integration. Dabei kommen Laien- und Profimusikerinnen und -musiker mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammen, um gemeinsam zu musizieren. Das rund 80-köpfige Ensemble des Orchesters trifft sich einmal pro Woche im Französischen Viertel. Es sind Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen. Eine feste Zusammensetzung gibt es nicht. Wer Zeit und Lust hat, kommt. Weil man auch nie weiß, wer welches Instrument mitbringt, gleicht keine Probe der anderen.
Projekt entstand 2015
Gegründet wurde das Projekt im Jahr der Flüchtlingskrise 2015. Folklang-Leiterin Susanne Christel wollte mit dem Angebot Menschen verschiedener Kulturkreise zusammenbringen und Kultur auf Augenhöhe vermitteln. Das Besondere: Die Teilnehmer lernen traditionelle Musik und Folkmusik ohne Noten - lediglich durch Zuhören und Nachspielen. Jede Musikerin und jeder Musiker bringt Volkslieder aus seinem Kulturkreis mit, so dass eine bunte und interessante Mischung entsteht.
"Wir gehen so vor, dass wir eingängige Melodien aussuchen, die schnell im Kopf bleiben, die man sich schnell merken kann. Das ist hilfreich, wenn die Musiker technisch auf unterschiedlichen Niveaus spielen."
Angeleitet werden die Laienmusiker von Profis. Rund fünf Musiker bilden das musikalisch-pädagogische Kernteam des Projekts: Sie entscheiden, ob sich die Stücke, die vorgeschlagen werden, zum gemeinsamen Musizieren eignen und bereiten dann die Stücke vor. Gespielt werden georgische und persische Lieder, Melodien aus Westafrika, Südamerika und vom Balkan.
Diskussion über Liedtexte
Manchmal wird über die vorgeschlagenen Lieder ausführlich diskutiert. Bei einem spanischen Volkslied ging es um einen König in der andalusischen Stadt Granada. Die Stadt war einst in arabischer Hand. Die arabischstämmigen Musikerinnen und Musiker wurden stutzig und wollten wissen, weshalb ein König mit arabisch klingendem Namen in einem spanischen Volkslied auftaucht. Daraufhin wurde nachgeforscht, wann das Lied entstanden ist. "Die Mitwirkenden lernen so auch ein Stück Kulturgeschichte", so Folklang 2.0-Leiterin Christel.

Deutsche Volkslieder in neuem Gewand
Den deutschen Musikerinnen und Musiker des Ensembles fällt es schwer, deutsche Volkslieder vorzuschlagen, beobachtet Christel. Sie müsse regelrecht dafür werben. Als das Folklang-Ensemble vor einigen Jahren das Lied "Die Gedanken sind frei" in Tübingen aufführte, wurde es ausgebuht. Damals wurde das Lied noch regelmäßig am 1. Mai von den Burschenschaften auf dem Tübinger Holzmarkt gesungen. Nach langen Diskussionen wurde das Volkslied aber doch ins Repertoire aufgenommen. Als es dann mit einem lateinamerikanischen Salsa-Rhythmus versehen wurde, gab es bei der Aufführung beim städtischen Neujahrsempfang 2016 vom Publikum sogar stehenden Applaus.
Folklang hat Biografien geprägt
Viele Mitwirkende sind durch Flucht und Vertreibung in Tübingen gelandet. Manche Profimusiker aus dem Kernteam haben Tübingen wegen Folklang zur neuen Heimat erkoren. Die Italienerin Sofia Meleleo kam als Erasmusstudentin zu Folklang und beschloss dann, Musik zu studieren. Eine Akkordeonspielerin hat durch das Ensemble eine neue Familie gefunden. Zu der gehört auch Christóbal Araya Altamirano, Sopran- und Tenorsaxophonspieler aus Chile. Er kam nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin wieder nach Tübingen. Durch Folklang hat er schnell Anschluss gefunden, wichtige Freundschaften seien entstanden.

Zukunft von Folklang 2.0 ungewiss
Finanziell steht das Projekt, das kein Flüchtlingsprojekt sein will, auf wackeligen Beinen. Ursprünglich wurde es vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert. Dank Tübinger Bürgerstiftung, Zuschüssen der Stadt und Mitteln aus dem Bundesmusikverband konnte es unter Folklang 2.0 fortgesetzt werden. Doch Ende 2022 läuft die Unterstützung endgültig aus. Nun hofft man auf Spenden und Sponsorengelder, damit das erfolgreiche Tübinger Integrationsprojekt weitergeführt werden kann.