Kritik am Dublin-System

Tausende Abschiebungen in BW im vergangenen Jahr gescheitert

Stand

Nach den Anschlägen der vergangenen Monate gibt es immer lautere Forderungen nach mehr Abschiebungen von Asylbewerbern. Doch in Baden-Württemberg hat das 2024 kaum funktioniert.

In Baden-Württemberg ist es im vergangenen Jahr in Tausenden Fällen nicht gelungen, Asylbewerber nach dem Dublin-Verfahren in das jeweils zuständige EU-Partnerland zu überstellen - obwohl in all diesen Fällen die förmliche Zustimmung des jeweiligen Landes vorlag. Das geht aus Zahlen des baden-württembergischen Justizministeriums und aus Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor, die der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vorliegen. 

Laut BAMF hatte die Bundesregierung demnach in insgesamt 10.467 Fällen aus Baden-Württemberg um Überstellung in ein EU-Land gebeten, in 6.770 Fällen stimmten die Partnerländer zu. Tatsächlich überstellt wurde laut Bundesamt jedoch mit nur 660 Menschen nicht einmal jeder Zehnte. Bundesweit ist das Verhältnis zwischen Ersuchen, Zustimmung und Überstellung ähnlich. 

Dublin-Verfahren: Ersteinreiseland ist für Asylbewerber zuständig

Das Dublin-Verfahren ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der regelt, welcher Staat für die Prüfung eines in der EU gestellten Asylantrags zuständig ist. In der Regel stellen Asylbewerber in dem Land der EU einen Asylantrag, in dem sie zuerst eingereist sind. Allerdings kommt es auch vor, dass die Geflüchteten weiter in andere EU-Staaten reisen und erst dort den Asylantrag stellen. Dies passiert häufig in Deutschland. Unter bestimmten Bedingungen muss das Ersteinreiseland die Menschen eigentlich zurücknehmen. Das funktioniert in der EU aber nicht wirklich.

Italien nimmt kaum jemand zurück

Die Gründe für den mäßigen Erfolg des Dublin-Verfahrens liegen im In- und Ausland. So stimmen einige Länder der Rücknahme zwar formal zu, in der Praxis stellen sie aber unerfüllbare Bedingungen für die Rücknahme von Dublin-Flüchtlingen. Damit wird die Überstellung fast unmöglich. Italien etwa akzeptiert seit Dezember 2022 keine Dublin-Flüge mehr und nahm laut BAMF auch aus Baden-Württemberg keinen einzigen Fall zurück. Dabei hatte es 2.514 Ersuchen erhalten und auch in 2.144 Fällen aus Baden-Württemberg einer Rücknahme zugestimmt.

Andere Gründe liegen in Deutschland selbst, etwa wenn deutsche Behörden die Fälle nicht rechtzeitig bearbeiten oder deutsche Gerichte die Überstellungen verhindern, etwa in Länder wie Kroatien. Ein Grund dafür ist, dass Richter befürchten, dass Asylbewerber dort kein rechtsstaatliches Verfahren erhalten oder die Unterbringungsbedingungen nicht den Mindestanforderungen entsprechen.

Überstellungen auch vor Solingen und Aschaffenburg gescheitert  

Zuletzt hatten die Anschläge von Solingen und Aschaffenburg das deutsche Scheitern bei den Dublin-Überstellungen in die Schlagzeilen gebracht. Denn in beiden Fällen hätten die Tatverdächtigen für ihre Asylverfahren eigentlich nach Bulgarien rücküberstellt werden sollen. Im Aschaffenburger Fall waren sogar schon viereinhalb Monate der sechsmonatigen Frist verstrichen, ehe das BAMF der örtlichen Ausländerbehörde in Aschaffenburg die Dublin-Rückführung mitteilte - der rechtskräftige Bescheid kam sogar erst wenige Tage vor Fristablauf in Aschaffenburg an.

Baden-Württemberg übernimmt Organisation 

Das Land Baden-Württemberg übernimmt bei Dublin-Überstellungen die Organisation, wenn eine Überstellung vom BAMF für rechtlich zulässig und durchführbar erachtet wird. Das landesweit zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe ist danach für die Überstellung über Land oder per Flug, für mögliche Grenzübergangsstellen oder Flughäfen und den Termin verantwortlich. 

Nach Angaben des Justizministeriums unterscheiden sich die Stuttgarter Zahlen leicht von der Statistik des BAMF, der Trend ist aber deutlich: Demnach scheiterten im vergangenen Jahr laut Ministerium bereits etwa 4.000 der rund 6.700 zugestimmten Überstellungen, bevor das Land sie übernommen hätte. Auch etwa 2.080 schließlich vom Land geplante Überstellungen funktionierten nicht. Laut der Stuttgarter Statistik wurden 623 Menschen überstellt.

Kritik an Dublin-System aus Baden-Württemberg

"Wir bedauern es, dass das Dublin-System eindeutig nicht in der Lage ist, einen wirksamen Beitrag zur Migrationssteuerung zu leisten", sagte Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek (CDU) der Deutschen Presse-Agentur. Die Haltung Italiens zeige, dass sich die Bundesregierung nicht darum bemühe, dem Dublin-System zu mehr Wirksamkeit zu verhelfen. "Vor diesem Hintergrund sind Zurückweisungen an der Binnengrenze das Gebot der Stunde." 

Die baden-württembergische SPD-Fraktion spricht von einem "ganz erheblichen Vollzugsdefizit bei Dublin-Überstellungen". Um die Zahlen zu steigern, gebe es einen erheblichen Handlungsbedarf, trotz einer landesweit gebündelten Zuständigkeit des Justizministeriums, so der migrationspolitische Sprecher der Fraktion, Sascha Binder. 

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Die meisten werden nicht angetroffen

Fast 1.300 in baden-württembergischer Verantwortung stehende Überstellungen (1.281 Fälle) scheiterten laut Ministerium im vergangenen Jahr, weil abgelehnte Asylbewerber nicht angetroffen wurden. In mehr als 300 weiteren Fällen ging das BAMF nochmal dazwischen, 124 Asylbewerber tauchten laut Justizministerium unter. Weitere Gründe waren freiwillige Ausreisen, rechtliche oder familiäre Gründe sowie Widerstand.

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