Die Lage im Ukraine-Russland-Konflikt spitzt sich weiter zu. Der Freiburger SPD-Politiker Gernot Erler war vier Jahre lang Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Im Interview mit SWR-Moderatorin Ulrike Liszkowski spricht er über die aktuelle Situation, Putins Blick auf die Ukraine und darüber, was die westlichen Mächte jetzt unbedingt tun sollten.
SWR: Herr Erler, was hat der russische Präsident Ihrer Meinung nach vor?
Gernot Erler (SPD): Wladimir Putin hat jetzt erst einmal Fakten geschaffen: Dadurch, dass er die beiden Separatistengebiete anerkannt hat und seinen Truppen den Befehl gegeben hat, in Donezk und Luhansk "Frieden zu schaffen". Gleichzeitig betont der russische Außenminister Lawrow, dass die Tür für Gespräche weiterhin offen bleiben soll. Wir haben es also mit einer Doppel-Strategie zu tun: einerseits Fakten schaffen, andererseits zu sagen, dass die Bereitschaft für einen Dialog weiterhin da sei.
Geht es Putin denn um den Osten des Landes oder geht es ihm um die gesamte Ukraine?
Das lässt er ganz bewusst offen. Wir rätseln ja schon länger über die tatsächlichen Pläne, die hinter den Truppenaufzug an der ukrainischen Grenzen stecken. Wir wissen jetzt, dass der erste Schritt gemacht ist: Die Republiken anzuerkennen. Und damit einen Vorwand zu schaffen, Militär einzusetzen, weil die Republiken um Schutz vor dem ukrainischen Militär bitten. Das muss aber nicht das Ende des Plans sein. Es kann auch ein Zwischenschritt sein. Oder aber erst der Anfang. Putins tatsächliche Absichten bleiben unklar.

Putin hat am Montag im russischen Fernsehen ausführlich dargelegt, wie er auf die Ukraine blickt. Sie sei ein untrennbarer Teil der russischen Geschichte. Was sind Ihrer Meinung nach Putins wahre Motive?
Putin hat schon im vergangenen Jahr einen Aufsatz dazu veröffentlicht. Darin schreibt er über die "historische Einheit der Russen und Ukrainer". Davon findet sich viel in seiner Rede wieder. Er sagt zum einen: Der Aggressor sei nicht Russland, sondern die Ukraine. Außerdem strebe die Ukraine nach Atomwaffen. Und: Die Ukraine habe nie eine eigene Staatlichkeit besessen. Das bedeutet, dass er die Existenz des Staates Ukraine in Frage stellt. Das wiederum lässt Vermutungen zu, dass der Aufmarsch in den Separatistengebieten nicht das Ende sein wird.
Ist die Rede als Kriegserklärung an den Westen zu verstehen?
So sehen es einige Politiker.
"Es ist auf jeden Fall ein absoluter Affront gegen den Westen."
Dahinter steckt auch die Annahme westlicher Politiker, dass Putin den Westen gerade für nicht richtig handlungsfähig hält. Insbesondere nicht die Europäische Union. Aus seiner Sicht hat die EU sowieso nicht mehr die Relevanz für Russland, wie es etwa die USA oder China haben. Das ist jetzt die Herausforderung für die westliche Politik: eine Einigkeit im Handeln herstellen. Nur so können sie die Unterstellung, schwach zu sein, entkräften.
Die EU will am Nachmittag über Maßnahmen entscheiden. Großbritannien hat bereits Sanktionen angekündigt. Wie sollte Ihrer Meinung nach das weitere Vorgehen des Westens aussehen?
Dass eine Reaktion notwendig ist, das ist klar. Aber es kann ja noch weitere Eskalationsschritte von Seiten Russlands geben. Deswegen sollte die EU jetzt nicht das ganze Pulver verschießen. Es sollte einen gestuften Ablaufplan mit Sanktionen geben. Vor allem ist eine einige Antwort des Westens notwendig. Das ist eine große Herausforderung.
Was kann der Westen noch tun?
Er muss überlegen, ob es sinnvoll ist, den diplomatischen Weg fortzusetzen und weiterhin Gespräche zu führen. Für Donnerstag war ein Gespräch des russischen und des US-amerikanischen Außenministers, Lawrow und Blinken, geplant. Es ist unklar, ob die USA daran festhalten.
Sie würden weiterhin den Dialog suchen?
"Ich würde die Gesprächsfäden jetzt nicht abreißen lassen."
Gespräche können ja auch dazu dienen, die eigene Position zu äußern. Nachzufragen, wie Russland sich denn die Zukunft vorstellt, ohne von der westlichen Welt isoliert zu werden. Weiterhin Gespräche zu führen, macht Sinn. Das ist allerdings eine Entscheidung der US-amerikanischen Politik.