Immer mehr Kinder sind bei ihrer Einschulung nicht schulreif. Sie haben motorische Schwierigkeiten, können sich schlecht konzentrieren, sind verhaltensauffällig oder haben Sprachprobleme. Aufsehen erregt hatte vor zwei Jahren die Gräfenauschule in Ludwigshafen: Dort war 2023 jeder dritte Schulanfänger "sitzen geblieben". Ein Extremfall, doch die Probleme betreffen längst nicht nur Brennpunktschulen in den Städten. Auch im ländlichen Raum sind die Defizite deutlich spürbar. Etwa an der Jengerschule in Ehrenkirchen (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald).
Auch im ländlichen Raum haben Erstklässler zunehmend Probleme
Erstklässlerinnen und Erstklässler haben heute mehr Defizite als noch vor zehn Jahren. Das geben rund 90 Prozent der Grundschullehrerinnen und Lehrer an, die an einer SWR-Umfrage teilgenommen haben. Bundesweit haben sich rund 6.000 Pädagoginnen und Pädagogen daran beteiligt, knapp 500 davon aus Baden-Württemberg. Eine von ihnen: Carmen Forell. Sie ist Lehrerin an der Jengerschule.

"Eine ganz durchschnittliche Grundschule", wie sie sagt, in einem eher ländlich geprägten Raum südlich von Freiburg. Mit Kindern aus akademischen und weniger gebildeten Haushalten und so manchen mit Migrationshintergrund. "Dennoch gibt es bei uns immer mehr Schwierigkeiten, was das Verhalten angeht", sagt Forell. Und auch die Kompetenzen, die die Kinder mitbringen, nähmen ab. Besonders die Fähigkeit, sich zu konzentrieren.
Die Konzentrationsfähigkeit ist ein TikTok-Video lang.
Sprachprobleme, aber auch Konzentrationsschwächen nehmen zu
Pro erster Klasse seien zwei bis drei Kinder nicht schulfähig, ergänzt Schulleiter Gerd Günther. Oftmals sei das bereits im Kindergarten offensichtlich, doch viele Eltern seien "beratungsresistent" und schulten ihre Kinder trotzdem ein.

Junge Schulanfänger tun sich zunehmend schwer, sich in die Klassengemeinschaft mit festen Regeln zu integrieren, beobachtet Carmen Forell. Wenn auch längst nicht alle - aber die Zahl der Problemfälle nimmt zu. Und: "Wir haben mehr Kinder, die zu Hause nicht die Alltagssprache Deutsch sprechen - das spüren wir ganz stark." Besonders Flüchtlingskinder hätten es beim Schulstart naturgemäß schwer.
Digitale Medien bremsen die Entwicklung der Kinder
Aber die Integration von ausländischen Kindern ist eben nur ein Teil des Problems. Das vielleicht größte Problem ist das, was die Lehrerin "eine veränderte Lebenswelt" nennt. Gemeint ist vor allem der exzessive Gebrauch von Handy, Tablet und Co. "Man merkt, dass sie sich weniger draußen bewegen, dass in den Familien weniger gebastelt, gemalt, gewerkelt oder gekocht wird", beobachtet Forell. Das wirke sich auf ihre motorischen Fähigkeiten aus, vor allem aber auf die Konzentrationsfähigkeit.

Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, nennen die Grundschullehrer in der SWR-Umfrage als eines der größten Probleme - neben Verhaltensauffälligkeiten und Sprachdefiziten. All das hat zur Folge, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder immer kürzer wird. Dass sie lernen, mit den allgegenwärtigen Bildschirmen umzugehen, ist für Carmen Forell ein wichtiger Schlüssel. Ihre Empfehlung an die Eltern ist klar: "So wenig wie möglich."
Wunsch: Mehr Frühförderung im Kindergarten - und in den Familien
Schulen wie die Jengerschule in Ehrenkirchen bemühen sich nach Kräften, Kinder mit Startschwierigkeiten zu fördern. So gibt es enge Kooperationen mit den örtlichen Kindergärten. Es gibt Förderunterricht, Lesepatinnen und Sozialdienstleistende, die sich mit kümmern. Doch all das reicht noch nicht. Es fehle an gut ausgebildetem Personal, sagt Forell. Aber nicht nur die Politik sei gefragt: "Wenn die Familien nicht mitziehen, dann ist die Schule am Ende. Das ist dann sehr frustrierend für uns", so die Lehrerin.
Ein Wunsch steht für sie - wie für nahezu alle Grundschullehrer - aber ganz oben auf der Liste: Dass die Kinder bereits im Kindergarten besser gefördert werden. So wünschen sich über 90 Prozent der Umfrage-Teilnehmenden eine verpflichtende Vorschule für alle förderbedürftigen Kinder nach Hamburger Vorbild.
BW-Kultusministerium setzt auf neues Sprachförderkonzept
Die schwarz-grüne Landesregierung will sich für eine stärkere Frühförderung einsetzen. Ihr neues Sprachförderkonzept "SprachFit" geht in eine ähnliche Richtung wie Hamburg. Werden bei der Einschulungsuntersuchung größere Sprachdefizite festgestellt, sollen nach und nach im ganzen Land verbindliche Fördergruppen eingerichtet werden.
Ab dem Schuljahr 2026/27 soll es auch sogenannte Juniorklassen geben, in denen Kinder ein Jahr lang auf die Grundschule vorbereitet werden. Ziel sei es, so Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne), dass die Kinder in diesem Jahr sprachliche Förderung, aber auch mathematische Fähigkeiten erhalten, "so dass sie dann auch halbwegs fit sind, um in der Schule zu bestehen".
ARD-Doku aus der Gräfenau-Schule in Ludwigshafen
In der ARD-Doku "Schulverlierer – Abgehängt schon in der Grundschule?" begleiteten Journalistinnen der ARD ein Jahr lang eine erste Klasse an der Gräfenau-Schule in Ludwigshafen. (Am Mittwoch, 11.06., 22:50 Uhr, im Ersten oder hier jederzeit in der ARD-Mediathek streamen.) Vor zwei Jahren macht die Schule bundesweit Schlagzeilen: 37 Erstklässler waren sitzen geblieben - fast jedes dritte Kind. Kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer Bildungskrise: Inzwischen scheitern viele Kinder bereits an den Grundfertigkeiten: Stift halten und zuhören. Die ARD Story begleitet exklusiv eine erste Klasse durch das Schuljahr, dokumentiert das Scheitern bisheriger Förderkonzepte und sucht nach Lösungen für einen besseren Übergang von Kita zu Schule.