Wenn es ihn nicht gäbe, würde die Zeit in Görwihl (Kreis Waldshut) längst still stehen. Seit über 50 Jahren steigt Fritz Rüd jeden Tag auf den Kirchturm und zieht die Kirchturmuhr dort wieder auf. Die alte Uhr lässt sich nämlich nicht elektronisch einstellen. Dazu kommt: Im Sommer geht sie schneller, im Winter langsamer, sagt Fritz Rüd. Er wird im Mai 86 Jahre alt, aber leid ist der seinen Job noch immer nicht.
Aus wenigen Monaten wurden 53 Jahre
Im Sommer des Jahres 1971 wurde er vom damaligen Bürgermeister der Gemeinde gefragt, ob der die Kirchturmuhr aufziehen könne. Er habe "nein" gesagt, erzählt Fritz Rüd, aber dann habe er es halt doch gemacht. Nur für kurze Zeit, habe es damals geheißen. Die 1888 gebaute Uhr sollte umgebaut werden und einen Elektroantrieb bekommen. Doch den hat sie bis heute nicht. Zu teuer und technisch schwierig, sagten die Gutachter. Deshalb steigt Fritz Rüd jetzt immer noch jeden Tag den 44 Meter hohen Kirchturm hoch, um dort die Gewichte des Uhrwerks aufzuziehen.
Früher habe ich mehrere Stufen auf einmal genommen. Aber jetzt nehme ich Stufe für Stufe und muss auch mehr schnaufen.

Ein historisches Kleinod mit Macken
98 Stufen sind es bis zum Uhrwerk. Das weiß er von anderen. Er selbst hat die Stufen nie gezählt, sagt Fritz Rüd. Oben angekommen geht die Kraftanstrengung weiter: Die alte Turmuhr hat drei Gewichte. Eins fürs Uhrwerk, eins für den Viertel-, Halb- und Dreiviertelstundenschlag und das dritte Gewicht lässt den Stundenschlag aus. Die bis zu 25 Kilo schweren Gewichte muss Fritz Rüd spätestens nach 30 Stunden nach oben ziehen, sonst bleibt die Uhr stehen. Zudem muss er die Uhr immer wieder von Hand nachstellen. Denn das Jahrhunderte alte Schmuckstück ist wetterfühlig: im Winter läuft sie schneller und im Sommer langsamer.
Je nachdem ob kalt oder arm, da gibt es immer Differenzen. Wenn sie nachgeht, kann ich hier drehen und wenn sie zu schnell ist, dann halt ich sie halt auch mal an.

Der Herr der Zeit gibt den Takt vor
Fritz Rüd legt Wert darauf, dass die Kirchturmuhr von Görwihl immer die richtige Zeit anzeigt und die Glocke pünktlich schlägt. In den letzten 53 Jahren hat er nur ein paar Mal vergessen, die Uhr wieder rechtzeitig aufzuziehen. Dann klingele bei ihm aber schon gleich das Telefon und die Görwihler fragen ihn, was los sei, sagt der 85-Jährige. Auf Fritz Rüd sei Verlass, bestätigen auch Görwihls Bürgermeister Mike Biehler und Pfarrer Bernhard Stahlberger. Wenn die Kirchturmuhr mal stehen bleibe, merke das jeder im Dorf, sagt Biehler. Und auch der Pfarrer der Gemeinde orientiert sich am Glockenschlag der Uhr.
Der Herr Rüd gibt den Takt vor. Wir haben zwar auch digitale Uhren in der Sakristei, aber wir halten uns wirklich an den Glockenschlag der Turmuhr.

Nachfolger nicht in Sicht
Wenn Fritz Rüd die schmale steile Holztreppe des Kirchturms wieder hinabsteigt, macht er sich manchmal Gedanken über die Zukunft. Wie geht es weiter, wenn er einmal nicht mehr die Treppen hinauf steigen kann? Fritz Rüd glaubt, dass dann doch noch eine elektronische Lösung gefunden werden muss. Der Kirchturm gehört war der Kirche, doch für das Uhrwerk ist die Gemeinde zuständig. Auch wenn Pfarrer Bernhard Stahlberger das alte Uhrwerk spannend findet und gerne auch selbst die Uhr aufzieht, Zeit hat er dafür aufgrund der Größe seiner Seelsorgeeinheit voraussichtlich nicht.

Wenn man es so viele Jahre macht, dann ist man schon ein wenig stolz.
Solange es geht, wird Fritz Rüd deshalb weiter jeden Tag auf den Kirchturm steigen und die Uhr aufziehen. Für den rüstigen Mann, der im Mai 86 Jahre alt wird, ist es zur täglichen Trainingseinheit geworden. Nach all den Jahren ist er darauf auch ein wenig stolz.