Christina Obergföll ist Baden-Württembergs neue Botschafterin für Alphabetisierung und Grundbildung. Sie will mit ihrem Beispiel als Leistungssportlerin Menschen mit mangelhaften Lese- und Schreibfähigkeiten Mut machen, an ihren Schwächen zu arbeiten, sagte die Speerwurf-Weltmeisterin von 2013 am Montag in Stuttgart. Sie selbst sei in ihrer Sportart über Jahre die "ewige Zweite" gewesen, Durchhaltevermögen habe sie dann aber an die Spitze gebracht.
"Es ist wichtig, dass man diese Menschen an der richtigen Stelle abholt und versucht zu motivieren, diese Schwäche zu einer Stärke zu entwickeln. Dann haben sie andere Möglichkeiten, ihnen bietet sich ein ganz anderes Sprungbrett, auch beruflich weiterzukommen."
Christina Obergföll aus Hohberg (Ortenaukreis) ist nach Angaben des baden-württembergischen Kultusministeriums eine von bundesweit drei Prominenten, die sich im Auftrag ihrer jeweiligen Bundesländer um dieses Thema kümmern. In Hessen setzt sich der ehemalige Turnweltmeister Fabian Hambüchen ein, in Bayern der Profibergsteiger und Extremkletterer Alexander Huber.

Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) und Obergföll stellten ihre Ziele am Montag in Stuttgart vor. Schopper nannte Obergföll einen Glücksfall. "Sie ist nicht nur eine herausragende Sportlerin, sondern auch sozial sehr engagiert und setzt sich beispielsweise für krebskranke Kinder ein", sagte die Ministerin. Obergföll will Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, Mut zusprechen und das Problem aus der Tabuzone holen.
650.000 der 18- bis 64-Jährigen in BW sind Analphabeten
In Baden-Württemberg sind schätzungsweise 650.000 der 18- bis 64-Jährigen funktionale Analphabeten, berichtete Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). In der ersten Phase sollen acht neue Grundbildungszentren eingerichtet werden, sagte Schopper. Standorte sind Mannheim, Rastatt, Offenburg, Freiburg, Stuttgart, Ulm, Freudenstadt und Schwäbisch Gmünd. Mit niederschwelligen Angeboten wollen die Grundbildungszentren Betroffene zum Erlernen von Lesen und Schreiben motivieren. Außerdem soll es Netzwerke und Kooperationen mit Einrichtungen geben, die direkten Zugang zu Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten haben.
"Mit zwei Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds und 600.000 Euro Landesmitteln soll die Literalität der Menschen in Baden-Württemberg gefördert werden."
Josef Schrader, Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, wies darauf hin, dass es in der Digitalisierung immer wichtiger werde, richtig schreiben und lesen zu können. "Ohne eine digitale Grundbildung geht es künftig kaum mehr." So müsse man etwa am Fließband oder in der Pflege Arbeitsanweisungen lesen können, weil die mündliche Kommunikation oft nicht mehr ausreiche. Schrader warb dafür, das Thema aus der Grauzone herauszuholen. Sollte die Corona-Pandemie anhalten, werde sich das Problem fehlender Lese- und Schreibfähigkeit noch verschärfen. So könnten Eltern mit mangelhaften Fertigkeiten auf diesem Gebiet ihre Kinder beim Unterricht zu Hause nicht ausreichend unterstützen, sagte er.
Obergföll will Mut machen, Lesen und Schreiben zu lernen
Die neue Botschafterin Christina Obergföll, Trägerin des Verdienstordens des Landes Baden-Württemberg, will unter anderem mit Internetvideos Mut machen, Lesen und Schreiben zu lernen. Außerdem sind Besuche in den acht neuen Grundbildungszentren geplant.
Bundesweit können rund 6,2 Millionen Erwachsene nicht richtig schreiben, lesen und rechnen sowie keine zusammenhängenden Texte aufnehmen. "Um in Beruf und Alltag zurechtzukommen, brauchen Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten viel Energie und Phantasie", sagt Knut Becker von der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg in Stuttgart. Viele hätten sich ausgeklügelte Strategien ausgedacht, um ihr Problem in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und auch im Familien- oder Freundeskreis überspielen zu können.