80 Jahre Befreiung von Auschwitz

Urenkelin erinnert an NS-"Euthanasiemord" ihrer jüdischen Urgroßmutter aus Freiburg

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Autor/in
Thomas Hermanns
Reporter Thomas Hermanns

Die NS-"Euthanasie" war auch für die Familien der Ermordeten traumatisch. Die Schottin Michelle Kaye erzählte beim Auschwitz-Gedenken in Freiburg von ihrer Urgroßmutter. Sie wurde 1940 in Grafeneck ermordet.

Der Kaisersaal im Historischen Kaufhaus in Freiburg ist an diesem besonderen Abend, dem 27. Januar, voll. Viele wollen sich an die Schrecken des Nationalsozialismus erinnern. Und sie wollen eine Freiburger Geschichte hören, über Flora Baer. Sie lebte einige Jahre in der damaligen Kreispflegeanstalt Freiburg. Von dort wurde sie am 18. August 1940 nach Grafeneck bei Reutlingen deportiert. Noch am selben Tag wurde sie in der Gaskammer ermordet. Ihre Urenkelin Michelle Kaye ist extra aus Schottland angereist. Sie erzählt rührend die Geschichte ihrer Urgroßmutter. Von ihrer Heimat Glasgow aus hatte sie sich auf Spurensuche nach Flora Baer gemacht. Über den Stolperstein in Freiburg fand sie schließlich Antworten.

Ein Stolperstein vor einem Gebäude in Freiburg zeigt den ehemaligen Wohnohrt der Jüdin Flora Baer.
In Freiburg erinnert ein Stolperstein an Flora Baer, die 1940 nach Grafeneck deportiert und in der Gaskammer ermordet wurde. Der Gedenkstein befindet sich in der Löwenstraße 1 in der Freiburger Innenstadt. Bild in Detailansicht öffnen
Ein Stolperstein vor einem Gebäude in Freiburg zeigt den ehemaligen Wohnohrt der Jüdin Flora Baer.
Im ehemaligen Augustinusheim in der Löwenstraße, einem Mutter- und Säuglingsheim (heute ein Schuhgeschäft), lebte Flora Baer für einige Jahre. Weitere Stationen waren die Katharinenstraße 8 und die Hildastraße 66. Bild in Detailansicht öffnen

Die Freiburger Geschichte der Jüdin Flora Baer

Flora Baer, geborene Stern, kam 1892 in Karlsruhe zur Welt. Sie hatte zwei Kinder, Emma und Erna Baer. Zunächst arbeitete Flora Baer als Dienstmädchen in Karlsruhe und Frankfurt, bis sie nach Freiburg zog. Hier wohnte sie im Augustinusheim in der Löwenstraße 1, in der Katharinenstraße 8 und der Hildastraße 66. Schließlich lebte sie längere Zeit in der Kreispflegeanstalt Freiburg im Stadtteil Stühlinger. In Protokollen der Anstalt heißt es, sie sei eine "geringfügig geistesschwache" Frau, die in Zimmer und Küche mitarbeite. Ihre Arbeitskraft liege bei "unter 50 Prozent", so eine Aussage von 1947 des damaligen Verwaltungsdirektors Wilhelm Späth.

Es ist sehr traurig, dass Emma [Baer] nie herausgefunden hat, was mit ihrer Mutter geschehen ist. Aber ich bin froh, dass wir endlich die Wahrheit kennen. Und auch, dass es eine Erinnerung an sie in Freiburg gibt.

Bei ihren Nachforschungen hörte Michelle Kaye zum ersten Mal von der Behinderung von Flora Baer. Ihre Großmutter Emma habe nie viel über ihr Leben in Deutschland gesprochen, erzählt sie. "Es fiel ihr sehr schwer", sagt Kaye. Auch, weil sie annahm, dass ihre Mutter tot sei. Denn Emma Baer hörte nie wieder irgendetwas von ihrer Mutter Flora Baer.

Eine Frau hält eine Rede im Historischen Kaufhaus in Freiburg zum Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz.
Michelle Kaye (rechts) erzählt von der Spurensuche nach ihrer Urgroßmutter Flora Baer. Sie wurde wegen einer Behinderung von den Nazis im Rahmen der NS-"Euthanasie" ermordet. Bild in Detailansicht öffnen
Eine Frau hält eine Rede im Historischen Kaufhaus in Freiburg zum Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz.
Der israelische Pianist Ofer Gadi Stolarov begleitete die Gedenkfeier mit der Klaviersonate von Gideon Klein. Er komponierte das Stück im Konzentrationslager Theresienstadt. Bild in Detailansicht öffnen
Eine Frau hält eine Rede im Historischen Kaufhaus in Freiburg zum Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz.
Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, beschrieb eindrücklich die Grausamkeit der NS-"Euthanasie" und der Vorgänge in Grafeneck. Bild in Detailansicht öffnen

Leiter der Gedenkstätte Grafeneck beschreibt Grauen des NS-"Euthanasieprogramms"

Zusammen mit rund 70 Personen wurde Flora Baer am 18. August 1940 nach Grafeneck deportiert. Dort war eine der etwa 50 Anstalten, in denen die Nazis ihr sogenanntes Euthanasieprogramm umsetzten und geistig, körperlich oder psychisch kranke Menschen in Gaskammern oder durch Medikamente ermordeten. Schloss Grafeneck im Kreis Reutlingen liegt etwa 60 km südlich von Stuttgart.

Von Januar bis Dezember 1940 wurden 10.654 Menschen in Grafeneck vergast, erzählt Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte. Jede Woche kämen Verwandte nach Grafeneck, um nach ihren Vorfahren zu suchen. Es seien diese "Augenzeugen der Augenzeugen", die die Erinnerungskultur lebendig hielten, sagt Stöckle.

Schwäbische Alb-Bahn vor Schloss Grafeneck bei Gomadingen.
Schloss Grafeneck bei Gomadingen im Kreis Reutlingen. Im Rahmen des NS-"Euthanasie"-Programms T4 ermordeten die Nazis hier innerhalb eines Jahres über 10.000 Menschen.

"Im Alltag die Erinnerungen wachhalten"

Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos) mahnte in seiner Rede, dass die Erinnerungen an die Gräueltaten der NS-Zeit am Leben gehalten werden müssten. Was damals geschah, sei immer noch in der Stadt zu spüren, so Horn.

Wir sehen, dass die Welt unmenschlicher wird, und daher ist es wichtig, dass wir an die Menschlichkeit appellieren, da sich so etwas nie wiederholen darf.

Im März wird in Freiburg das NS-Dokumentationszentrum am Rotteckring eröffnet. Auch das sei wichtig, um an die von der NS-Diktatur verfolgten und ermordeten Menschen aus Freiburg und der Region zu denken.

"Über Mutter wird nicht gesprochen ..." - Ausstellung über NS-Euthanasiemorde

Der Arbeitskreis "NS-Euthanasie und Ausgrenzung heute" zeigte im Historischen Kaufhaus Teile seiner Ausstellung "Über Mutter wird nicht gesprochen…NS-Euthanasiemorde an Freiburger Menschen". Scham, Trauer und Traumata beschäftigten die Familienangehörigen in der Nachkriegszeit. In vielen Familien, wie auch der von Michelle Kaye, wurde kaum über Opfer der NS-"Euthanasie" gesprochen - oder man wusste einfach nichts darüber.

Eine Besucherin der Gedenkfeier ist sichtlich von den Geschichten betroffen. Sie habe selbst seit 28 Jahren Multiple Sklerose. "Es schockiert mich, dass ich auch in einem dieser Heime gelandet wäre. Ich bin noch ein bisschen sprachlos", bekennt sie.

Freiburg gedenkt jährlich anlässlich des Tages der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 aller Opfer des Nationalsozialismus. Veranstalter sind das städtische Kulturamt und das SWR Studio Freiburg gemeinsam. Im vergangenen Jahr erzählte die Holocaust-Überlebende Eva Weyl, wie sie als Kind das Konzentrationslager Westerbork in den Niederlanden überlebte.

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