Gäubahn-Gutachten (Foto: SWR)

Zweifel an Bauplänen der Stadt

S21: Stadt Stuttgart hat kritisches Gutachten zur Gäubahn jahrelang verheimlicht

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Frieder Kümmerer
Frieder Kümmerer (Foto: privat)

Ob Teile der freiwerdenden Flächen nach Fertigstellung von S21 bebaut werden dürfen, ist umstritten. Ein weiteres Gutachten, das dem SWR vorliegt, zeigt: Die Stadt weiß das schon länger.

Die Stadt Stuttgart weiß wohl schon länger, dass durch Stuttgart 21 freiwerdende Grundstücke in guter Lage nicht einfach neu bebaut werden können. Nach Informationen des SWR verheimlicht sie ein entsprechendes Gutachten, das dem Sender vorliegt. Experten und Kritiker von Stuttgart 21 stellen infrage, dass der geplante Bau des "Rosensteinquartiers" auf dieser Grundlage möglich ist.

Die Stadt teilte am Samstag mit, man habe die Medienberichte über eine Geheimhaltung des Gutachtens mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Es habe dem Zweck gedient, die Rechtsauffassung verwaltungsintern zu überprüfen.

Auf den Grundstücken liegt noch eine Betriebspflicht der Bahn, die nur aufgehoben werden kann, wenn es offiziell ein Stilllegungsverfahren gibt. Allerdings sind davon auch auf dem letzten Teilabschnitt der Strecke die Flächen betroffen, auf denen die Stadt ab 2026 große Pläne hat und das neue Rosensteinquartier mit Wohnhäusern, Geschäftsgebäuden, Schulen und Sportplätzen bebauen möchte.

Die Stadt weiß um die Problematik schon seit mehr als anderthalb Jahren. Aber sie hat dieses Gutachten wohl zurückgehalten, denn unter den Gemeinderäten scheint niemand etwas davon gewusst zu haben. Warum, kann nur vermutet werden. Vielleicht, weil sie genau die Bebauungspläne gefährdet sieht, wegen derer die Stadt überhaupt einem Großbauprojekt wie Stuttgart 21 einst zugestimmt hat.

Das verheimlichte Gutachten der Stadt

"Gutachten zur Betriebspflicht an der 'Panoramastrecke' in der Landeshauptstadt Stuttgart" heißt es auf der Titelseite der Analyse, angefertigt von einer Anwaltskanzlei in Berlin. Das Datum "November 2020" lässt darauf schließen, dass das Gutachten noch unter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) in Auftrag gegeben wurde und spätestens in dem Monat an die Stadt ging, als Frank Nopper (CDU) zum neuen Oberbürgermeister gewählt wurde.

"Die Betriebspflicht der DB Netz für die Panoramastrecke entfällt nicht im mehrjährigen Zeitraum zwischen Kappung der Gleise der Panoramabahn und Fertigstellung der Flughafenanbindung, es sei denn, die Unternehmensgenehmigung wird (noch) durch eine Stilllegungsgenehmigung oder in sonstiger Weise geändert."

Gutachten ähnelt einer Untersuchung von Umweltverbänden

Erst vor einem Monat hatten Umweltverbände ein ähnliches Gutachten veröffentlicht, wonach die Grundstücke der Panoramabahn, die die Gäubahn an den Kopfbahnhof anbindet, nicht ohne Weiteres anderweitig genutzt werden dürfen. Denn solange die Zugverbindung aus Zürich über Singen nach Stuttgart noch nicht an den neuen Tiefbahnhof angeschlossen ist, müssen aus rechtlichen Gründen die Grundstücke für einen möglichen Eisenbahnbetrieb freigehalten werden.

Über dieses Gutachten hatte der SWR Ende April berichtet:

Stuttgart

Anschluss der Gäubahn zum Hauptbahnhof Gutachten zu S21: Stadt Stuttgart darf teils auf freiwerdenden Flächen nicht bauen

Ein juristisches Gutachten droht einen Strich durch Pläne der Stadt Stuttgart zu machen. Sie darf demnach manche Grundstücke, auf der bisher noch Züge fahren, nicht einfach bebauen.

Auch im nun aufgetauchten Gutachten der Stadt werden ähnliche Punkte erörtert. Es geht um die Frage der Betriebspflicht der Strecke und ob ein Stilllegungsverfahren notwendig ist. Mit einem Unterschied: Das Gutachten der Stadt untersucht einen kleineren Streckenabschnitt, nämlich nur die Strecke von Stuttgart-Vaihingen in den Stuttgarter Norden, wo über einen möglichen Nordhalt diskutiert wird. Bei diesem Abschnitt sind sich Stadt und Gemeinderat eigentlich auch einig, dass die Strecke erhalten bleiben soll.

Das Gutachten der Umweltverbände hat hingegen den gesamten Abschnitt bis zum Hauptbahnhof untersucht. In der Erkenntnis scheinen sich die Gutachten aber zu gleichen: Die Abbindung der Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen ändert nichts daran, dass eine Betriebspflicht auf der weiterführenden Strecke liegt und diese nicht einfach aufgehoben werden kann. Dafür wäre ein Streckenstilllegungsverfahren notwendig.

Gemeinderäte zeigen sich überrascht von dem neuen Gutachten

"Das ist erst mal ein Schock", erklärt Hannes Rockenbauch, Fraktionssprecher von FrAKTION - LINKE SÖS PIRATEN Tierschutzpartei. "Weil wir kämpfen seit Jahren um den Erhalt der Gäubahn über die Panoramabahn an den Hauptbahnhof." Immer wieder habe man sich in Diskussionen befunden, mit der Stadt gemeinsam diskutiert, wie die Panoramabahn erhalten werden kann. Auch schon in den Jahren 2019 und 2020. "Aber dass es rechtlich die Einschätzung gibt, dass es gar nicht so einfach ist, diese Strecke stillzulegen und abzukoppeln, das hätte unsere Argumentation unterstützt."

Es habe nie Andeutungen gegeben, dass es zu dieser Frage ein Gutachten gebe oder eines im Auftrag sei, so Rockenbauch. Auch wenn das Gutachten der Stadt nur einen kleineren Teil der Panoramabahn betrachtet, so müssten doch auch diese Ergebnisse für die gesamte Streckenanbindung für den Hauptbahnhof gelten.

"Dass uns das vorenthalten wird, macht mich gerade in gewisser Weise sprachlos und auf den ersten Blick ist das Gutachten eindeutig und ich finde es einen Skandal, dass uns das nicht vorliegt."

Petra Rühle und Andreas Winter, Vorsitzenden der Grünenfraktion im Gemeinderat Stuttgart, werfen einen ersten kurzen Blick in das Gutachten. (Foto: SWR)
Petra Rühle und Andreas Winter, Vorsitzende der Grünenfraktion im Gemeinderat Stuttgart, werfen einen ersten kurzen Blick in das Gutachten.

So sehen es auch die Grünen. Auch bei der stärksten Fraktion im Gemeinderat in Stuttgart war nichts über das Gutachten bekannt. In den vergangenen Tagen sei allerdings gemunkelt worden, dass die Stadt eigentlich schon seit Längerem ein Papier vorliegen habe, so die Fraktionssprecher Petra Rühle und Andreas Winter. "Der Titel dieses Gutachtens spricht Bände", sagt Rühle.

Nach einem ersten Blick in das Gutachten erklärt Winter: "Die Panoramabahn muss im Betrieb sein, insofern bedeutet das Rückenwind für das, was wir auch wollen." Beide Gutachten in Kombination würde nicht nur den Weiterbetrieb der Strecke bekräftigen, sondern auch die Argumentation für einen Ergänzungsbahnhof, zusätzlich zu dem neuen Durchgangsbahnhof, stützen.

CDU fordert gemeinsame Gespräche

"Für uns als CDU-Fraktion ist klar, dass wir bis zum Nordhalt Verkehr auf der Panoramabahn haben wollen", erklärt Alexander Kotz (CDU). Dass das Gutachten erst jetzt öffentlich wird, hält er nicht für problematisch. Das Problem sei, dass man sich in den letzten Jahren "immer irgendwelche Gutachten um die Ohren geschlagen hat, anstatt dass wir uns an einen Tisch gesetzt und gesagt haben: Was wollen wir? Wer sind die Partner? Wie kriegen wir es hin?"

Kotz ist zuversichtlich, dass man auch die Frage nach dem Betrieb der Panoramabahn bis zum Nordhalt noch geregelt kriege. In der Frage nach der Bebauung des Rosensteinquartiers glaubt Kotz, dass es eine Frage der Abwägung sei, was wichtiger ist: Zugverkehr oder dringend benötigter Wohnungsbau. "Ich hoffe nicht, dass diese Abwägung Gerichte vornehmen müssen." Für ihn ist klar, dass im Bereich des Kopfbahnhofs möglichst schnell der Wohnungsbau kommen muss.

Grüne im Bundestag: Fahrgastinteressen bleiben auf der Strecke

Wer mehr Bahn wolle, erhalte Strecken und entwickle attraktive Betriebskonzepte für mehr Fahrgäste, statt alle Argumente an sich abprallen zu lassen, erklärte der Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel (Grüne) aus Filderstadt am Samstag mit. "Leider aber riskieren auch nach dem Bekanntwerden von inzwischen zwei Rechtsgutachten einige der S21-Verantwortlichen noch immer, dass die Fahrgastinteressen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben", so Gastel, der auch Mitglied im Verkehrsausschuss ist.

Stadt: "Gutachten für interne Meinungsbildung"

Am Samstag teilte die Stadt mit, das Gutachten habe dem Zweck gedient, die Rechtsauffassung zur weiteren Betriebspflicht der Panoramastrecke bis zum Nordhalt verwaltungsintern zu überprüfen. Es stütze die Auffassung der Verwaltung und diene letztlich dazu, die Stellung der Stadt gegenüber den Projektpartnern zu stärken. Die Stadt wolle es in der nächsten Sitzung des Ausschusses zum Rosensteinquartier mit den Fraktionen besprechen.

In der Mitteilung bestätigt die Stadt die SWR-Informationen, dass eine weitere Betriebspflicht für die Panoramastrecke durch die Deutsche Bahn "zumindest im Interimszeitraum" besteht. Das entspreche auch dem Beschluss des Gemeinderats, weiterhin Schienenverkehr auf der Panoramastrecke vorzusehen. Der Rückbau der Gleisflächen, also die Stilllegung, benötige ein eigenes Verfahren, weshalb die Stadt auch Verhandlungen mit der Deutschen Bahn zum Rückbau unternommen habe. Der Rückbau der Gleisanlagen sei nicht Fragestellung des Gutachtens gewesen.

Zuvor waren weder der Oberbürgermeister noch ein Vertreter der Stadt zu dem Thema für ein Interview zur Verfügung gestanden. Die Stadt hatte zunächst schriftlich auf Anfrage des SWR geantwortet, dass auch sie sich weiter für den Erhalt der Panoramastrecke bis zum Nordhalt einsetze. Eben diesen Abschnitt habe man auch geprüft für eine interne Meinungsbildung. "Ausgeklammert ist die Betriebspflicht zur Anbindung des Hauptbahnhofs. Eine Fortführung der oberirdischen Führung zum Hauptbahnhof lehnt die Landeshauptstadt Stuttgart ab." Ende Juni will die Stadt ihre eigene Position zu dieser Thematik im städtischen Ausschuss vorstellen.

Bahn bleibt skeptisch trotz Gutachten

Die Bahn zeigt sich auf Anfrage skeptisch, was beide Gutachten angeht. Sie verweist auf das Planrechtsverfahren zur Planfeststellung zwischen 2002 und 2006. Diese Planung sehe vor, die Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen vorübergehend abzubinden, bis der neue Anschluss fertiggestellt ist. Ein Gutachten des Verkehrswissenschaftlichen Instituts in Stuttgart habe gezeigt: Der Endhalt in Vaihingen sei ein praktikabler Ersatz, bis die Gäubahn fertig angeschlossen ist. Ein Stilllegungsverfahren sei auch nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2018 nicht erforderlich, um die Panoramabahn zurückzubauen.

Vor allem das Gutachten der Umweltverbände stellt allerdings fest, dass zu diesem Zeitpunkt die Unterbrechung auf wenige Monate geplant war. Da man inzwischen mit mehreren Jahren rechnet, haben sich demnach die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert. Dennoch teilt die Bahn dem SWR mit: "Die Bahn hält unverändert an ihrem Planungsziel fest, die Gäubahn zukünftig über den Stuttgarter Flughafen und den Fildertunnel zum Stuttgarter Hauptbahnhof zu führen." Erst vergangenen Montag hat die Bahn in einem Bericht der Stuttgarter Zeitung nochmals bekräftigt: Sie selbst wird die Strecke nach 2025 nicht weiter betreiben. Das müsse dann ein anderer Betreiber tun.

Bauvorhaben "Rosensteinquartier" auf der Kippe?

In einem sind sich Stadt und Gemeinderat einig: Man möchte die Panoramabahn zumindest bis in den Norden Stuttgarts erhalten. Klar ist auch: Die Stadt Stuttgart wartet darauf, dass der Tiefbahnhof fertig wird. Denn auf den frei werdenden Flächen des jetzigen Kopfbahnhofs und des Gleisvorfelds hat die Stadt große Pläne mit dem Bauprojekt "Rosensteinquartier", auf das alle so lange warten. Auf der Fläche des jetzigen Kopfbahnhofs und auf dem Gleisvorfeld sollen Wohn- und Gewerbegebiete, Schulen und Sportplätze entstehen.

Die beiden Rechtsgutachten könnten im Umkehrschluss gleichzeitig dieses Bauvorhaben infrage stellen. Denn wenn die Trasse nicht freigegeben werden kann, die Strecke und Zuganbindung an den Hauptbahnhof womöglich sogar in Teilen erhalten werden muss, kann nicht wie geplant gebaut werden. Ungünstig für eine Stadt, die unter anderem im Jahr 2027 die Internationale Bauausstellung "IBA'27" ausrichten möchte.

"Seit die Pläne immer reifer werden, ist es natürlich peinlich, einzugestehen, dass das alles Luftnummern sind und deswegen schadet so ein Gutachten solchen Fantasiegebäuden", sagt Hannes Rockenbauch. Für ihn ist klar, dass die Stadt Stuttgart mit falschen Karten spiele. Nicht ganz so kritisch sehen es die Grünen. Aber auch für Andreas Winter ist bezüglich der Bauprojekte klar: "Wir müssen deswegen jetzt schnell die Diskussion führen." Für ihn ist daher ganz klar die Lösung: Ein unterirdischer Ergänzungsbahnhof, damit die Bauvorhaben nicht komplett infrage gestellt werden müssen. "Wir wollen natürlich auch diese Bebauung."

Warum alles nicht so einfach ist

Bei dem Thema "Panoramabahn" und die Frage nach der Anbindung der Gäubahn wird seit Monaten gerungen. Die Gutachten beziehen sich allerdings nur darauf, dass eine zwischenzeitliche Unterbrechung, die auf eine Zeit zwischen 5 und 15 Jahren geschätzt wird, nicht zulässig ist. Daraus könnte man im Umkehrschluss interpretieren: Wenn die Strecke von Zürich über Singen nach Stuttgart an den Tiefbahnhof angeschlossen ist, steht einem Abbau der Panoramastrecke und den Bauprojekten der Stadt Stuttgart nichts mehr im Weg.

Aber über diese Anbindung wird seit Jahren diskutiert und die Fertigstellung des Anschlusses verzögert sich. Aktuell wollen die meisten Projektpartner, dass die Gäubahn zukünftig bei Böblingen durch einen noch zu bauenden Tunnel (den sogenannte Pfaffensteigtunnel) am Flughafen an die neue Anbindung an den Tiefbahnhof angeschlossen wird. Über dieses Vorhaben soll im Juli in einer Sondersitzung des S21-Lenkungskreises entschieden werden.

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Es gibt aber auch die Forderungen, zusätzlich zum neuen Tiefbahnhof noch einen unterirdischen Ergänzungsbahnhof zu bauen. Vor allem die Gäubahn soll demnach über die Panoramastrecke an den Bahnhof angeschlossen bleiben. Das wollen die Grünen im Gemeinderat und Verkehrsminister Winfried Hermann, so wie Hannes Rockenbauch und die FrAKTION. Sie befürchten, dass ein erhöhtes Passagieraufkommen in den kommenden Jahren alleine durch den Tiefbahnhof nicht gestemmt werden kann. Dem widerspricht die Bahn. Den Befürwortern eines Ergänzungsbahnhofs könnten die beiden Rechtsgutachten aber neue Argumente geben.

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