Frau aus Rems-Murr-Kreis hatte Freund verloren

App statt Selbsthilfegruppe? Hilfe bei Trauer, Stress und Einsamkeit

Stand
Autor/in
Philipp Pfäfflin
Bild von Philipp Pfäfflin

Als ihr Freund starb, fühlte sich Lisa Mutvar aus dem Rems-Murr-Kreis allein und hilflos. Eine Selbsthilfegruppe kam für sie nicht in Frage. Deswegen entwickelte sie eine App.

Menschen nach einem Schicksalsschlag Halt geben - und zwar mit dem Handy. Das ist das Ziel einer App, die Lisa Mutvar aus Weinstadt-Beutelsbach (Rems-Murr-Kreis) entwickelt hat. Dabei können sich Personen vernetzen, die in einer ähnlichen Lebenslage sind und sich austauschen möchten oder die auf der Suche nach Tipps und Ratschlägen sind.

Warum hat Lisa Mutvar die App entwickelt?

Lisa Mutvar war 20 Jahre alt, als ihr Freund bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Die beiden wohnten damals zusammen in München. Sie fiel in eine Schockstarre, erzählt sie. Gleichzeitig hatte sie Tausende Fragen, aber kaum jemanden, der sie beantworten konnte. Sie sehnte sich nach dem Austausch mit anderen, vor allem mit Personen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten und mit denen sie auf Augenhöhe sprechen konnte.

Eine Selbsthilfegruppe kam für sie nicht infrage. Feste Termine, vor Ort statt zu Hause sein, nicht wissen, wie es dort aussieht und ob man zu der Uhrzeit Lust hat, über die eigene Trauer zu reden - so stellte sie sich Selbsthilfegruppen vor. Also suchte sie nach Angeboten im Netz. Da sie kein passendes fand, kam ihr die Idee, selbst eine App zu entwickeln.

Für wen ist die Selbsthilfe-App?

Ob der Tod eines Angehörigen oder drohender Burnout - die App ist für alle, die selbst betroffen sind und sich auf Augenhöhe austauschen wollen. Und zwar in den Themenbereichen: Trauer, Einsamkeit, Stress, Überforderung, Beziehungsprobleme und persönliche Krisen. Nach der Anmeldung kann man Kontakt mit anderen App-Nutzerinnen und -Nutzern aufnehmen und miteinander chatten - immer zu zweit.

Eine 29-jährige Stuttgarterin, die nicht namentlich genannt werden will, nutzt die Selbsthilfe-App seit etwa einem halben Jahr. Sie hatte sich angemeldet, weil sie kurz vor einem Burnout stand, insbesondere im Beruf völlig überfordert war, berichtet sie. Der Austausch mit anderen Betroffenen sei "total wertvoll" gewesen. Sie habe schnell gemerkt, mit wem es passe - mit Gleichaltrigen genauso wie mit Älteren. Mittlerweile sei sie wieder gesundheitlich stabil. Trotzdem bleibe sie in der App, um anderen beizustehen.

Wie lang gibt es die App schon? Warum heißt sie "belinu"?

Die App "belinu" ist vor rund einem Jahr an den Start gegangen. Erst nur für iOS-Geräte, seit Herbst auch die Android-Version. 2.000 Community-Mitglieder gebe es derzeit. Tendenz: stark wachsend. Der Name "belinu" steht für "Believe in yourself" - glaub an Dich selbst. Das habe sie sich wie ein Mantra immer wieder selbst vorgesagt, erzählt Lisa Mutvar. Denn die Hilfe durch andere funktioniere nur mit dem Glauben an sich selbst, ist sie überzeugt.

Ist die App kostenlos? Zahle ich mit meinen Daten?

Die Selbsthilfe-App hat zwei Bereiche. Der erste ist kostenlos: Hier kann man sich mit seiner E-Mail-Adresse anmelden und ein Profil erstellen. Wenn man dieses freischaltet, ist man in der Community zu sehen und kann - ähnlich wie bei einer Dating-App - Kontaktanfragen an andere Personen schicken. So kommt es zum Chat-Austausch von immer zwei Personen.

Im zweiten Bereich gibt es Kurse, Übungen und andere Angebote. Dafür hat Lisa Mutvar Videos mit Psychologinnen und Psychologen erstellt. Für diesen Bereich muss man zahlen. Knapp 39 Euro für drei Monate. Unternehmen, die das Angebot für eine große Anzahl von Kolleginnen und Kollegen nutzen, bekommen günstigere Angebote.

Psychologie Selbsthilfegruppen – Was bringt der Austausch unter Betroffenen?

Während die medizinische Fachwelt die Selbsthilfe lange skeptisch beäugte, wird sie heute als vierte Säule im Gesundheitswesen immer weiter gestärkt.

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Ist die App vor Missbrauch sicher?

Lisa Mutvar und ihrem Entwickler-Team ist es wichtig, dass die App ein "Safe Space" ist, ein Ort, an dem man offen über seine Ängste, Probleme oder Trauer sprechen kann. Nutzer, die sich nicht an die Community-Richtlinien halten würden, können gemeldet und gesperrt werden. Außerdem werde Künstliche Intelligenz eingesetzt, um die hochgeladenen Fotos zu überprüfen.

Einen hundertprozentigen Schutz gebe es nicht, weiß Lisa Mutvar, aber sie sagt auch: "Bis jetzt ist noch nie etwas passiert. Das ist eine echt coole Community."

Was sagen Selbsthilfe-Experten zu der App?

"Selbsthilfe ist nicht kommerziell. Sie ist kostenfrei." Das sei ein Grundsatz der Selbsthilfekontaktstelle SEKiS Baden-Württemberg, sagt deren Geschäftsführerin Silke Wohlleben und verweist auf weitere Merkmale von Selbsthilfe wie Vertraulichkeit, Selbstbetroffenheit und Freiwilligkeit. Das Leben könne man nicht zurückschrauben, nur die Sicht auf Dinge verändern. Das helfe mit dem Schicksal zurechtzukommen. "Das Verstandensein durch Gleichbetroffene ist unglaublich heilsam."

In diesen Punkten sind sich App-Entwicklerin Mutvar und SEKiS-Geschäftsführerin Wohlleben einig. Doch das App-Angebot sei ein schmaler Grat, kritisiert Geschäftsführerin Wohlleben. Denn neben dem Community-Bereich, in dem sich App-Nutzende austauschen können, gebe es auch den kommerziellen Bereich. "Ich will es nicht schlecht reden. Das Medium ist nicht das Problem, aber der wirtschaftliche Geschäftsprozess, der dadurch angebahnt wird." Das widerspreche den Selbsthilfe-Kriterien der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen.

Der Community-Bereich ist absolut kostenfrei.

Lisa Mutvar sieht das anders. Der Community-Bereich sei absolut kostenfrei. Zusätzlich gebe es das kommerzielle Angebot. Dieses müsse niemand nutzen. Doch von ihren Nutzerinnen und Nutzern wisse sie, wie wichtig auch die Kurse, Ratschläge und Tipps von Psychologen seien. Und noch etwas anderes ist ihr wichtig: Ohne den kommerziellen Bereich hätte sie nicht den kostenlosen Bereich entwickeln können - und zwar ohne dass in diesem Daten der Teilnehmenden zur kommerziellen Nutzung erfasst würden.

Trauer, Einsamkeit oder Überforderung: Wer hilft mir noch?

Hilfe in einer Krise oder einer schwierigen Lebenssituation gibt es neben den Angeboten der Selbsthilfegruppen auch bei der TelefonSeelsorge - übrigens nicht nur am Telefon, sondern auch per Mail, Chat oder Beratung. Außerdem bietet die TelefonSeelsorge auch eine eigene App, die KrisenKompass-App, an. Beispiele für weitere Hilfsangebote sind der Bundesverband Trauerbegleitung oder psychologische Beratungsstellen von kirchlichen oder Trägern auf Landkreisebene. Nützliche Telefonnummern gibt es zudem etwa auf der Internet-Seite der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Sind klassische Selbsthilfegruppen out?

Die Nachfrage nach Selbsthilfe-Angeboten sei ungebrochen, sagt SEKiS-Geschäftsführerin Wohlleben. Das Bedürfnis sich auszutauschen mit Menschen, denen es ähnlich geht, sei riesig groß: "Leute bekommen keinen Arzttermin. Wissen nicht, wie es beruflich weitergeht. Haben Ängste und auf Therapieplätze wartet man ewig." Im Internet gebe es viele Angebote, doch Silke Wohlleben verweist auch auf die Vorteile von klassischen Selbsthilfegruppen.

"Man muss weinen. Jemand gibt einem ein Taschentuch." Eine kleine Berührung - gerade bei emotionaler Belastung, sei das wohltuend. Ihre Erfahrung: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer freuten sich auf die Gruppe, würden dort neue Leute sehen, das gebe Halt und neuen Lebenssinn.

Gleichzeitig sieht sie, dass vor allem Jüngere lieber unter sich blieben, nicht so viel mit Älteren zu tun haben wollten und deswegen auch vermehrt nach digitalen Angeboten suchten. Deswegen glaubt die Selbsthilfe-Expertin, dass Angebote wie Selbsthilfe-Apps künftig stark zunehmen werden und möglicherweise gleichberechtigt und ebenso wichtig wie Präsenzangebote nachgefragt werden könnten.

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