Ein Wegweiser auf dem Klostergelände St. Josefsheim in Ludwigsburg-Hoheneck: Bis in die 80er-Jahre gab es dort ein Kinderheim, in dem es zu schweren Missbrauchsfällen gekommen ist. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Christoph Schmidt)

Opfer berichtet von Erlebnissen

Kindheit im St. Josefsheim Ludwigsburg: In der Beichtstunde missbraucht

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Missbrauch und Prügel statt Liebe und Fürsorge: Silvia Gerhardt aus Stuttgart hat in ihrer Kindheit im katholischen St. Josefsheim in Ludwigsburg-Hoheneck Traumatisches erlebt.

Für Silvia Gerhardt war die Zeit im St. Josefsheim die Hölle. Die 58-jährige Stuttgarterin lebte von 1967 bis 1971 im katholischen Kinderheim in Ludwigsburg-Hoheneck.

Silvia Gerhardt wurde im Hohenecker Josefsheim in den 60er-Jahren körperlich, psychisch und sexuell missbraucht. (Foto: SWR)
Silvia Gerhardt wurde im Hohenecker Josefsheim in den 60er-Jahren körperlich, psychisch und sexuell missbraucht.

Die Einrichtung befand sich idyllisch gelegen auf dem Gelände des dortigen Klosters, geführt von Karmelitinnen vom Göttlichen Herzen Jesu, einem katholischen Schwesternorden. Doch an Nächstenliebe und Barmherzigkeit erinnert sie sich kaum. Damals hätten ein strenges Regelkorsett und weltfremde Frömmigkeit in dem Heim geherrscht. Demütigungen und Schläge, so berichtet sie, waren ihr Alltag - bis hin zu sexuellem Missbrauch.

Als Bettnässerin unter die eiskalte Dusche

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1975 lebten in der Bundesrepublik etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen. Diese befanden sich oft in kirchlicher Hand - wie auch das Ludwigsburger St. Josefsheim. Silvia Gerhardt kam dorthin, als ihre überforderte Großmutter mit ihr nicht mehr zurechtkam. Durch die Zustände dort sei sie zur Bettnässerin geworden, erzählt sie. Die für sie zuständige Nonne habe sie daraufhin frühmorgens unter die eiskalte Dusche gestellt.

"Ich hab so geschrien, dass ich immer alle geweckt habe. Daher war ich der Weckdienst."

Missbrauchsopfer Silvia Gerhardt besucht die Kirche St. Josef auf dem Klostergelände in Ludwigsburg-Hoheneck.  (Foto: SWR)
Missbrauchsopfer Silvia Gerhardt besucht die Kirche St. Josef auf dem Klostergelände in Ludwigsburg-Hoheneck.

Opfer erlebte Fesseln, Freiheitsentzug und Zwang

Erst habe sie neben, dann unter dem Bett schlafen müssen - gefesselt. "Ich sollte kein Leintuch und keine Matratze mehr nass machen", erzählt Silvia Gerhardt heute. Hinzu kamen weitere drakonische Strafen. Ein weiterer Vorwurf lautet, Kinder hätten ihr Essen aufessen müssen, auch wenn sie es zuvor erbrochen hatten. Und als Silvia Gerhardt aufbegehrte, sei sie in den Keller gesperrt worden - ohne Essen. "Ich habe auch sehr viele Schläge bekommen - auch mit dem Teppichklopfer und dem Handfeger."

Heim war über Jahrzehnte ein Ort massiver Gewalt

Mittlerweile gibt es das Kinderheim nicht mehr, es wurde 1992 geschlossen. Auch die Schwestern von damals leben nicht mehr. Doch das Kloster an sich besteht weiter, neun Karmelitinnen leben heute dort. Schwester Edith Riedle leitet die Gemeinschaft. Die Ordensoberin hat sich den Vorwürfen der ehemaligen Heimkinder gestellt und ein externes Münchner Institut mit der Aufarbeitung beauftragt. Das kommt zu dem Schluss: Das St. Josefsheim war über Jahrzehnte ein Ort massiver Gewalterfahrungen. Schwester Edith Riedle ist schockiert von dem, was die Kinder im Heim damals erleiden mussten.

"Es tut mir sehr leid, es beschämt mich sehr. Es hat mich sehr betroffen gemacht und schockiert."

Ordensoberin Schwester Edith Riedle beschämen die Missbrauchsfälle der vergangenen Jahrzehnte in ihrem Kloster. (Foto: SWR)
Ordensoberin Schwester Edith Riedle beschämen die Missbrauchsfälle in den 60er- und 70er-Jahren in ihrem Kloster.

Riedle: Nonnen haben missachtet, wofür der Orden steht

Für Schwester Edith Riedle sind die Zustände von damals auch deshalb unbegreiflich, da sie gegen alles verstießen, wofür ihr Orden steht: "Unsere Stifterin sagte, wir sollten den Kindern die Mütter - so gut wir können - ersetzen." Statt "Leben zum Blühen" zu bringen, habe man "Leben zerstört". "Manche Kinder sind wirklich im Leben gescheitert", sagt die Ordensoberin. "Und das macht mich sehr betroffen und traurig.“ 

Kein Schutz durch den Pfarrer

Am schlimmsten, so Silvia Gerhardt, sei der sexuelle Missbrauch durch einen katholischen Priester gewesen, den inzwischen verstorbenen Ludwigsburger Stadtpfarrer Wilfried Metzler. Er kam regelmäßig zur Beichtstunde ins Kloster. An einen vordergründig freundlichen, scheinbar warmherzigen Mann erinnern sich Zeitzeugen - so hatte ihn die junge Silvia Gerhardt auch zunächst erlebt: "Wir haben (ihm) berichtet, wie es uns im Kinderheim ergeht. Und da war der Pfarrer Metzler sehr nett und hat gemeint: Ja, er könnte ja mal mit den Nonnen sprechen, damit es uns besser geht."

Die Kirche St. Josef auf dem Klostergelände in Ludwigsburg-Hoheneck.  (Foto: SWR)
Die Kirche St. Josef auf dem Klostergelände in Ludwigsburg-Hoheneck.

Opfer berichtet von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung

Dafür aber sollte sie "viel lieber" zu ihm sein, berichtet sie heute. Zunächst sollte sie demnach auf seinem Schoß sitzen, dann ihn berühren, sein Glied streicheln. "Das wurde halt dann immer schlimmer", erzählt Silvia Gerhardt. "Bis zur Vollendung des sexuellen Bedarfs." Ihre Geschichte mit dem übergriffigen Gottesmann war kein Einzelfall, auch andere Kinder berichten von sexuellem Missbrauch.

Erfahrungen haben Silvia Gerhardt krank gemacht - und stark

Die Verbrechen des Priesters hat die Diözese Rottenburg-Stuttgart mittlerweile anerkannt - Silvia Gerhardt hat als finanzielle "Anerkennungsleistung" von der Diözese Rottenburg-Stuttgart 5.000 Euro erhalten. Das St. Josefsheim hat 10.000 Euro Entschädigung geleistet.

Bis heute in psychologischer Behandlung

Doch kein Geld kann wiedergutmachen, was ihr als Kind widerfahren ist. Seit Jahren ist sie in psychologischer Behandlung, muss Antidepressiva nehmen, ist Frührentnerin. Aber: Die Erfahrungen der Kindheit hätten sie auch stark gemacht, sagt Silvia Gerhardt.

"Ich habe drei Kinder gekriegt. Ich habe meine Kinder bewusst schon aus diesem Grund ganz anders erzogen. Wollte denen eine richtige schöne Kindheit geben. Was ich nie hatte."

Ihre Kinder bestätigen, das sei ihr gelungen. Dass sie dieses Ziel erreicht hat, mache sie heute glücklich und zufrieden: "Was das betrifft, bin ich im Reinen." Dennoch will sie, dass die künftigen Generationen von ihrem Schicksal und der ihrer Leidensgenossinnen und Leidensgenossen erfahren. Im Herbst wollen sie und weitere ehemalige Heimkinder zusammen mit Schwester Edith Riedle ein Mahnmal im Klostergarten aufstellen.

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