Kinderarzt Jansen hört auf: Für seine Patienten ist das ein Problem (Foto: SWR, Olga Henich)

Fehlende Ärzte nicht nur auf dem Land

Praxis in Stuttgart schließt: Eltern finden keinen neuen Kinderarzt

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Olga Henich

Ärztemangel gibt es nicht nur auf dem Land. Auch in Stuttgart suchen Ärzte händeringend nach Nachfolgern für ihre Praxis - und Mütter wie Väter nach einem Arzt für ihre Kinder.

Eltern fällt es immer schwerer, einen Arzt für ihre kranken Kinder zu finden. Das zeigt das Beispiel einer Familie aus Stuttgart.

Noch herrscht in der Kinderarztpraxis von Thomas Jansen in Stuttgart-Neugereut Vollbetrieb. 40 bis 80 junge Patienten betreut er am Tag. Er untersucht sie, schreibt Rezepte aus, berät die Eltern über Impfungen und kümmert sich um Notfälle. Ab Mitte März wird seine Praxis leerstehen. Um seine Patienten im Corona-Winter nicht im Stich zu lassen, hat er seinen Ruhestand bereits nach hinten verlegt. Doch nun, kurz vor seinem 67. Geburtstag, geht er in den Ruhestand.

"Es macht mich traurig, wenn ich nicht weiß, wie meine Patienten jetzt weiterbetreut werden", sagt Kinderarzt Jansen. Acht Jahre lang hat er vergeblich nach einem Nachfolger für seine Praxis gesucht.

Eltern finden auch im Umland keinen Kinderarzt

Vor 26 Jahren hat Thomas Jansen im dicht besiedelten Stadtteil Neugereut die erste Kinderarztpraxis gegründet. Nun bleiben die Eltern seiner rund 2.000 Patienten ohne Ersatz zurück, denn in den umliegenden Praxen herrscht Aufnahmestopp. Die Kapazitäten reichen nicht für neue Patienten aus. Der Vorschlag der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), den Suchradius nach einem Kinderarzt zu vergrößern, führt nicht unbedingt zum Erfolg, berichtet die dreifache Mutter Simone Blumhagen. "Wir waren sogar bereit, mit unserem kranken Kind ans andere Ende der Stadt zu fahren oder in einen anderen Landkreis, aber hier nimmt uns auch keiner auf, weil wir nicht aus ihrem Einzugsgebiet kommen."

Eltern: Niemand fühlt sich verantwortlich

Krankenkassen und die KVBW können den Eltern trotz wiederholter Anfragen nicht helfen. "Auch wir können den Nachwuchsmangel und die Zulassungsbeschränkungen für niedergelassene Ärzte nicht ändern", sagt Kai Sonntag, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der KVBW. Sonja Beuttenmüller, Mutter von zwei Kindern: "Wir fühlen uns völlig allein gelassen, da jeder die Verantwortung von sich schiebt und nur auf die Politik verweist."

Laut Bedarfsplanung ist Stuttgart mit Ärzten überversorgt

Seinen Kollegen macht Kinderarzt Jansen keinen Vorwurf. Auch sie arbeiteten bereits am Limit. Der Mangel an Medizinern sei kein Einzelfall. Wie viele niedergelassene Ärzte es in einer Stadt geben darf, regelt die sogenannte Bedarfsplanung. Laut dieser gibt es in Stuttgart formell sogar zu viele Ärzte. In der Realität reicht es laut Jansen aber seit Jahren vorne und hinten nicht mehr. "Diese Planung stammt noch aus den 1990er Jahren, als man das Gefühl hatte, es gebe zu viele Ärzte. Heute haben wir einen massiven Fachkräftemangel, aber die politische Linie besagt noch immer: Stuttgart wäre überversorgt."

Kinderarzt Jansen hört auf: Für seine Patienten ist das ein Problem (Foto: SWR, Olga Henich)
Wohin mit den Kindern, wenn sie krank sind? Das fragen sich derzeit viele Eltern in Stuttgart-Neugereut. Denn die dortige Praxis schließt. Andernorts heiße es meist "Aufnahmestopp".

Mehr Arbeit und mehr Kinder

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ergibt sich aus einer veralteten Rechnung, wie viele Ärzte für eine bestimmte Anzahl an Kindern im Stadtgebiet vorgesehen sind. In Stuttgart waren es im Jahr 2021 52 Ärzte auf 97.825 Kinder und Jugendliche. Bedacht wird in diesen Zulassungsregelungen allerdings nicht, dass sich die Arbeit in den Praxen durch neue Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, aber auch viele Verwaltungsaufgaben verdoppelt hat.

Parallel dazu ist die Zahl der Kinder in Baden-Württemberg in den letzten zehn Jahren um ein Viertel gestiegen. Allein in Stuttgart ist die Zahl der Kinder seit etwa sechs Jahren – zum Teil durch eine höhere Geburtenrate, zum Teil auch wegen Flucht und Migration – so hoch wie seit 1970 nicht mehr.

Kinderarzt: Praxis ist für viele junge Ärzte nicht attraktiv

Durch die zunehmende Arbeitsbelastung und die steigenden Verwaltungsaufgaben, die unter anderem durch neue Vorschriften zur Datenschutzverordnung und Digitalisierung entstehen, sei die Praxisleitung für viele Nachwuchsärzte unattraktiv geworden, sagt Arzt Jansen: "Für die Arbeit mit Patienten bleibt immer weniger Zeit, weil wir so viele Reglementierungen haben und das nimmt zum Teil Formen an, die Kinderärzte an ihre Grenzen bringen." Viele Fachärzte bevorzugten deshalb die Anstellung in einer Klinik, statt eine Praxis zu gründen.

Kassenärztliche Vereinigung fordert Reformen

Um den Ärztemangel auszugleichen, seien nicht nur mehr Aus- und Weiterbildungsplätze nötig, sagt Kai Sonntag von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. "Viele Hebel müssen in Gang gesetzt werden: Dazu zählen gesetzliche Reformen in der Zulassungs- und Berufsverordnung oder die Anpassung des Vergütungsmodells." Die Früchte dieser Entscheidungen wären allerdings erst in einigen Jahren sichtbar. Auf eine Veränderung in ferner Zukunft können die Eltern im Stuttgart-Neugereut nicht warten. Sie brauchen schon ab Mitte März einen Ansprechpartner, wenn es um die medizinische Versorgung ihrer Kinder geht.

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