Der Angeklagte vor Gericht (Foto: SWR, SWR)

Gericht analysierte Morde

Femizid: Landgericht Stuttgart fordert mehr Schutz für Frauen

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Am Landgericht Stuttgart sind dieses Jahr schon drei Männer für Morde an Frauen verurteilt worden. Das Gericht sieht darin ein Muster - und kritisiert Fehler vor den Taten.

In Auenwald (Rems-Murr-Kreis) ist ein Mann am Freitagmorgen in das Haus seiner ehemaligen Partnerin eingedrungen und hat dort auf zwei Bewohner eingeschlagen, wie die Polizei berichtet. Der alkoholisierte Mann habe sich bei dem Vorfall in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Daher sei er nach seiner Festnahme in eine psychiatrische Klinik gebracht worden.

Dass der 38-Jährige demnach ein gerichtliches Annäherungsverbot ignorierte, erinnert an ähnliche Fälle von Gewalt von Männern gegen Frauen aus der Region Stuttgart - mit dem Unterschied, dass die Männer in Backnang (Rems-Murr-Kreis), Ostfildern-Kemnat (Kreis Esslingen) und Sindelfingen (Kreis Böblingen) ihre Ex-Partnerinnen schließlich töteten. Die drei Mordfälle endeten in diesem Jahr mit Urteilen des Stuttgarter Landgerichts.

Frauenmorde beginnen oft als häusliche Gewalt und Stalking

Die Fälle beschäftigten das Gericht offenbar auch nach den Urteilen. Als roten Faden sieht Landgerichts-Präsident Andreas Singer, dass einem Tötungsdelikt gegenüber der eigenen Ehefrau bzw. Partnerin häufig Beziehungsstreitigkeiten einschließlich häuslicher Gewalt und Stalking vorausgehen.

"Die polizeiliche und gerichtliche Erfahrung zeigt, dass solche Vorzeichen sehr ernst genommen werden müssen."

Andreas Singer, der Präsident des Landgerichts in Stuttgart, antwortet 2019 bei einer Pressekonferenz auf Fragen von Journalisten.  (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Bernd Weissbrod)
Andreas Singer, Präsident des Landgerichts Stuttgart, 2019 bei einer Pressekonferenz

Fall 1: Mord an Ehefrau in Ostfildern-Kemnat

Am 16. Mai 2022 verurteilte die 19. Schwurgerichtskammer einen 55 Jahre alten Mann wegen Mordes an seiner Ehefrau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Er hatte ihr wegen ihrer Scheidungsabsicht zweimal in den Brustkorb geschossen, woran sie kurze Zeit später starb. Die Frau hatte zuvor erfolglos versucht, eine neue Wohnung für sich und die Kinder zu finden. Deshalb lebte das Ehepaar vor der Tat räumlich getrennt, aber weiter in einer gemeinsamen Wohnung.

SWR-Reporter Werner Trefz über das Urteil:

Fall 2: Mord an Ehefrau in Sindelfingen

Am 18. Februar 2022 verurteilte das Gericht einen 50-jährigen wegen Mordes an seiner getrennt lebenden Ehefrau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Mann hatte sie im August 2021 in Sindelfingen (Kreis Böblingen) erwürgt. Die Frau hatte im Vorfeld Todesangst geäußert und ihren neuen Aufenthaltsort nach der Trennung geheim gehalten. Der Mann erfuhr die neue Adresse trotzdem.

SWR-Reporter Werner Trefz über das Urteil:

Fall 3: Mann tötet Frau in Backnang

Am 8. April 2022 verurteilte die 19. Schwurgerichtskammer einen 30 Jahre alten Mann wegen Mordes an seiner Partnerin, mit der er nach islamischem Recht verheiratet war, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zwischen den beiden war es mehrfach zu Streit gekommen. Daraufhin hatte die Frau den Behörden gemeldet, dass der Mann unter einer falschen Identität in Deutschland lebte. Nach einem erneuten Streit Anfang Mai 2021 kaufte der Mann in einem Supermarkt ein Messer, mit dem er die Frau in der gemeinsamen Wohnung in Backnang tötete.

SWR-Reporter Werner Trefz über das Urteil:

Landgericht Stuttgart: Zu wenig gegen Femizide getan

Zumindest bei zwei dieser drei Fälle hätte Prävention das Leben der Frauen vielleicht retten können, sagt Landgerichtspräsident Singer. Im einen Fall hätte die Tat möglicherweise durch ein kurzfristiges Angebot einer geschützten Wohnung vermieden werden können - im anderen Fall dadurch, dass durch strengere Vertraulichkeit und höhere Schutzmaßnahmen der Täter die neue Adresse des Opfers nicht erfahren hätte.

Bei Gewalt gegen Frauen sofort einschreiten

Entscheidend sei, dass Polizei, Justiz, Sozialämtern, Frauenhäusern und Beratungsstellen eng zusammenarbeiten, so das Landgericht. Außerdem müsse man schon bei ersten Anzeichen von Gewalt einschreiten, so das Landgericht. Dabei müsse man berücksichtigen, dass die Opfer zum Teil in prekären Verhältnissen leben und auch wegen sprachlicher Barrieren nicht immer von bestehenden Hilfsangeboten erfahren. Außerdem würden sie sich teilweise von bürokratischen Hürden abschrecken lassen. Diese Frauen seien ganz besonders auf niederschwellige Hilfs- und Schutzangebote angewiesen.

Warten auf Platz im Frauenhaus

Hilfsangebote gibt unter anderem in Frauenhäusern. Doch hier gibt es oft eine Warteliste, und die sei meistens lang, betont Claudia Brüning vom Sozialamt in Stuttgart. Letztendlich müsse die Gefahr vorher erkannt werden. Dabei müsse man vorsichtig vorgehen. Es gelte, in einer sogenannten Risikoanalyse bei einer Fachberatungsstelle zu untersuchen: Welche Ausprägung hat die Gewalt? Welche Geschichte hat die Gewalt? Hat es Morddrohungen gegeben? Ist der Besitz von Waffen bekannt? Welche anderen Faktoren spielen noch eine Rolle? Wo findet die Gewalt statt?

Claudia Brüning vom Sozialamt Stuttgart - blonde Frau mittleren Alters stehend (Foto: SWR)
Claudia Brüning vom Sozialamt Stuttgart

Meist werde die Gewalt von Männern ausgeübt, betont Brüning. Das bedeute jedoch nicht, "dass man immer, wenn man eine Risikoanalyse gemacht hat, die Gewalt auf jeden Fall verhindern kann." Aber es sei ein sehr, sehr wichtiges Werkzeug, betont Brüning.

"Gewalt kann sich schon früh äußern, zum Beispiel in Form von Kontrolle. Das kann eine Gewalteskalation in Gang setzen, die sich weiter über andere Gewaltformen steigert - bis hin zur Tötung."

Frauen müssen Hilfsangebot gegen Gewalt kennen

Das Thema Femizid könne nicht von Institutionen alleine bearbeitet werden, sondern "jede Person muss hinschauen, was passiert in seiner oder ihrer Umgebung" - und sich dann sehr aktiv gegen Gewalt stellen, fordert Claudia Brüning. "Wir müssen das Angebot besser ausbauen, sodass Frauen schneller Hilfe bekommen. Das ist das Wesentlichste, das wirklich alle diese Hilfe kennen. Hätte man in all diesen Fällen eine differenzierte Risikoanalyse gemacht, wäre es vielleicht anders gekommen", vermutet man beim Sozialamt Stuttgart.

Deutschlandweit wird nach Untersuchungen des Bundeskriminalamtes (BKA) etwa an jedem dritten Tag eine Frau durch ihren (ehemaligen) Ehemann oder Partner umgebracht. Häufig sei das Motiv dafür, dass dieser eine zu erwartende oder bereits erfolgte Trennung nicht akzeptieren wolle - aus Hass, Herrschafts- und Besitzdenken oder auch archaischen "Ehrvorstellungen" heraus, so das BKA.

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