Anwalt von Semiya Simsek

Zehn Jahre nach Entdeckung von NSU-Terror: Opferanwalt Jens Rabe sieht noch offene Fragen

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Vor zehn Jahren ist der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU, von den Behörden entdeckt worden. Die Aufarbeitung mündete 2016 in einen großen Prozess. Opferanwalt Jens Rabe aus Waiblingen (Rems-Murr-Kreis) blickt zurück.

SWR: Herr Rabe, sie haben im NSU-Prozess in München Semiya Simsek vertreten. Sie ist die Tochter des Blumengroßhändlers Enver Simsek, das erste Opfer des NSU, der im Jahr 2000 auf offener Straße in Nürnberg erschossen wurde. "Warum mein Vater?" - das wollte seine Tochter Semiya Simsek wissen. Hat sie eine Antwort bekommen?

Jens Rabe: Da muss man sagen: leider nein. Für Semiya Simsek war elementar zu erfahren, warum ihr Vater nun ermordet wurde, was die dahinter stehenden Motive sind. Und natürlich weiß Semiya Simsek, dass wir über Rechtsterrorismus sprechen, dass eine rechte Gesinnung Ausgangspunkt all der Taten war. Aber warum nun ihr Vater tatsächlich zum Opfer wurde, wie die Auswahl erfolgt ist, ob ihr Vater mehr oder weniger ein Zufallsopfer war oder ganz gezielt am 9. September 2000 umgebracht wurde, das weiß Frau Simsek bis heute nicht. Und damit wird sie aller Voraussicht nach ihr restliches Leben leben müssen.

An diesem Punkt setzt jetzt auch die Kritik vieler Opferanwälte heute an, die sagen, dass immer noch nicht alles zu hundert Prozent alles aufgeklärt ist. Auch nicht nach diesen Jahren voller Prozesstage. Schließen Sie sich da an?

Also vorweg muss man mal sagen: Im NSU-Prozess wurde das Versagen des Rechtsstaats einfach noch mal ganz klar offenbar. Die Ermittlungsbehörden haben Fehler gemacht, die Nachrichtendienste waren irgendwie etwas außer Kontrolle, und auch die Politik hat nicht gesehen, wie groß die Bedrohung durch rechten Terror ist. Jetzt hat der Prozess und hat das Gericht in München sehr viel ans Tageslicht gebracht. Das Gericht hat sich große Mühe gegeben, und tatsächlich wissen wir um das Terror-Trio herum jetzt sehr viel. Aber es stellt sich natürlich schon die Frage: War es nur das Trio? Wie sieht es mit den Helfershelfern aus? Und da gibt's immer weniger Informationen. Und aus meiner Sicht ist da schon die Kritik berechtigt zu sagen, wir wissen immer noch nicht genug und man muss eigentlich noch viel tiefer schürfen.

Semiya Simsek steht neben ihren Anwälten Stephan Lucas und Jens Rabe.  (Foto: dpa Bildfunk,  dpa | Andreas Gebert)
Semiya Simsek die Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Simsek, steht im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in München zwischen ihren Anwälten Stephan Lucas (l) und Jens Rabe.

Haben Sie denn bis heute alle Akten zu Gesicht bekommen? Die würden sie als Vertreter der Nebenklage ja auch einsehen dürfen…

Also ich habe alle Prozessakten zu Gesicht bekommen. Das sind die Akten, die wir sehen dürfen. Es gibt aber natürlich auch noch andere Aktenwerke, beispielsweise die, die im Rahmen von Untersuchungsausschüssen erstellt wurden, und die kenne ich nicht alle.

Kommen wir noch mal auf den Prozessausgang zurück: Er endete 2018 mit Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren und einmal lebenslänglich für Beate Zschäpe. Das ist wahrscheinlich die Verurteilung, die allen noch im Kopf ist. Wars das dann jetzt mit dem NSU?

Ich fürchte fast, dass es zu einem großen Teil alles war. Natürlich darf man nicht vergessen, dass es von staatlicher Seite schon auch viele Aufklärungsbemühungen gegeben hat, Untersuchungsausschüsse zum Beispiel. Momentan ist ja auch noch ein Verfahren nicht rechtskräftig, was dieses Strafurteil anbelangt. Da wird man sehen, was der Bundesgerichtshof entscheidet. Aber ich glaube, im Groben war es das.

Sie sind Mitglied im Netzwerk engagierter Rechtsanwälte für Opferschutz. Von der Seite der Täterverteidigung zu wechseln auf die Seite der Opfervertretung. Das sei eine bewusste Entscheidung, haben Sie es mal formuliert. Wann haben Sie diese getroffen?

Also die habe ich relativ früh getroffen in meiner Berufslaufbahn, also schon vor ungefähr 15 Jahren, weil ich einfach festgestellt habe, dass dieser Perspektivwechsel von der Verteidigung auf die Seite der Opfer und umgekehrt von der Seite der Opfer auf die Seite der Verteidigung, mir hilft, nicht blind zu werden, indem was ich tue. Das heißt, der Blick auf die andere Seite, das Wissen um die Befindlichkeiten beispielsweise des Opfers, wenn ich jemanden verteidige, hilft mir einfach aus meiner Sicht, meine Arbeit besser zu machen.

Ihre erste Opfervertretung, das war im Prozess um den Amoklauf von Winnenden 2009. Der Prozess ging mit ihnen nach Hause, haben Sie damals gesagt. War das im NSU-Prozess auch so?

Wenn sie Opfer vertreten, dann müssen sie aus meiner Sicht als Anwalt ganz nah an diese Mandanten heranrücken. Es ist ja so, wenn man in so ein Mandat hineinkommt, dann ist es perspektivisch so, dass man über zwei, drei Jahre eng zusammenarbeitet zwischen Anwalt und Mandant. Und natürlich, wenn man weiß, welches menschliche Schicksal hinter einem Fall steckt, dann will man sich dem als Anwalt nicht verschließen. Und wenn man eben am Ende eines solchen Prozesses steht, wie jetzt im NSU-Verfahren und so zurück blickt, dann muss man sagen, dass die Verbindungen auch auf persönlicher Ebene zu den Opferangehörigen und zu Semiya Simsek sehr eng sind. Und das ist auch ein schöner Teil meiner Tätigkeit.

Semiya Simsek lebt heute wieder in der Türkei. Sie hat ein Buch geschrieben über die „Schmerzliche Heimat: Deutschland“. Sie schließt aber nicht aus, dass sie auch mal wieder zurückkehren will. Sie haben noch Kontakt zu ihr, wie geht es ihr?

Ich habe sehr, sehr regelmäßig Kontakt, gerade jetzt in dieser Zeit wieder, wo sich die Ereignisse zum zehnten Mal jähren. Und ganz erfreulicherweise kann man sagen, dass es Semiya Simsek sehr, sehr gut geht. Sie lebt in der Türkei, ist dort verheiratet, hat zwei Kinder und hat sich sehr bewusst entschieden, in die Türkei zu ziehen, weil sie war ja eines der Gesichter der Opferfamilien. Einfach in Deutschland auch oft angesprochen wurde und dieses angesprochen werden, bringt es ja so mit sich, dass man dann auch tagtäglich erinnert wird an das, was passiert ist mit dem Vater, mit dem Mord, mit dem Verfahren. Und in der Türkei ist es Frau Simsek gut gelungen, den Blick wieder nach vorne zu richten. Sie arbeitet dort als Sozialpädagogin und schaut trotz dieser schweren und sie immer noch belastenden Vergangenheit optimistisch in die Zukunft.

Und wie geht es Ihnen heute an einem Tag, wo wir auf zehn Jahre NSU schauen? Hat der Prozess, vielleicht auch außerhalb des Gerichtssaales, irgendetwas bewirkt?

Also für mich ist es nach zehn Jahren erstmal so der innere Rückblick auf viele Ereignisse. Ich erinnere mich zum Beispiel noch unheimlich gut an den Moment, als ich mit meinem Kollegen vor der Tür der Familie Simsek stand und wir überlegen, wir drücken jetzt den Klingelknopf und wen werden wir da kennenlernen. Also das sind einfach Momente, die vergisst man nicht als Anwalt. Ich war seinerzeit ja auch dabei in Berlin, bei der Gedenkveranstaltung mit der Bundeskanzlerin, wo Semiya Simsek diese aus meiner Sicht große Rede gehalten hat. Also es sind einfach die persönlichen Rückblicke. Und um auf ihre Frage zu antworten auch, was so das Resümee ist, da muss man einfach sagen: Das Versagen des Staates wurde offenbar. Es wurde auch offenbar, dass vielleicht einfach auch Stereotype, rassistische Stereotype, bei den Ermittlungen zu einer gewissen Blindheit geführt haben. Und da bleibt zu hoffen - aber das wird noch eine lange Arbeit sein - dass man diese Punkte ausmerzt und solche Fälle in Zukunft, sollte es sie je wieder geben, viel schneller aufgeklärt werden. Das wäre meine Hoffnung.

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SWR