Der Tod eines Mannes bei einem Polizeieinsatz in Mannheim hat heftige Kritik an der Arbeit der Polizei ausgelöst. An mehreren Tagen demonstrierten einige hundert Menschen gegen den Einsatz - ihr Vorwurf: Polizeigewalt. Doch weder die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) noch das Anzeigeaufkommen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte lässt auf eine mögliche Zunahme von Polizeigewalt schließen, wie Baden-Württembergs Innenministerium auf eine SWR-Anfrage mitteilte.
Es fehle an empirischer Forschung zu dem Thema, beklagt der Polizeiexperte der Non-Government-Organisation (NGO) Amnesty International, Philipp Krüger. "Hinzu kommt, dass die Beleuchtung des Dunkelfelds generell ein schwieriges Unterfangen ist." Von einer großen Dunkelziffer unaufgeklärter Fälle spricht auch die Bürgerbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Beate Böhlen - sie sieht vor allem strukturelle Probleme.
Bürgerbeauftragte: Fälle werden bei Polizei "bewusst oder unbewusst verschluckt"
Böhlen bekleidet das noch neue Amt der Bürgerbeauftragten seit Ende 2019. Es wurde 2016 geschaffen, um zwischen der Bevölkerung und der Landespolizei zu vermitteln. Das Angebot gelte beidseitig. Polizeibeamtinnen und -beamten kämen zu ihr, sowie Menschen aus der Zivilbevölkerung, die sich von der Polizei falsch behandelt fühlten, erklärt sie gegenübert dem SWR. Böhlen sei mit ihrem Team daran interessiert, die Probleme unhierarchisch zu lösen.
Angesichts der bekannten Zahlen, dass von mehr als 1.000 Anzeigen gegen Polizeikräfte in Baden-Württemberg nur sechs mit einem Urteil endeten, geht Böhlen von einer hohen Dunkelziffer aus. Sie ist sich sicher, dass viele Fälle in den Strukturen der Polizei bewusst oder unbewusst verschluckt würden. In der Polizei herrsche keine "fehlerverzeihende Kultur", teils sogar eine "fehlervertuschende Kultur", kritisiert sie. Dabei wäre es für alle Beteiligten so wichtig, Fehler zu benennen.
Nach Polizeieinsatz in Mannheim mit einem Toten Innenministerium in Stuttgart: Sehr wenige Strafanzeigen wegen Polizeigewalt enden mit Verurteilungen
Der Tod eines Mannes bei einem Polizeieinsatz in Mannheim löste heftige Kritik aus. Doch handelt es sich um einen Einzelfall? Die meisten Strafanzeigen wegen mutmaßlicher Polizeigewalt bleiben laut Innenministerium folgenlos.
Amnesty International: Polizisten wollen nicht als "Verräter" gelten
Verfahren gegen Polizeibeamtinnen und -beamten hätten nur geringe Erfolgsaussichten, beklagt auch Amnesty International. Häufig gebe es Schwierigkeiten, Täterinnen und Täter zu ermitteln. Solche Verfahren seien auch deshalb schwierig, weil Polizistinnen und Polizisten nicht gegeneinander aussagen würden, sagt der Sprecher der Gruppe Polizei und Menschenrechte, Philipp Krüger. Das habe mit einer Loyalität untereinander zu tun, teilweise aber auch mit Angst vor Repressalien und Mobbing durch die eigenen Kolleginnen und Kollegen. Durch eine Aussage könne man als "Verräter" gelten, so Krüger.
Laut Amnesty International werden etwa 97 Prozent der Verfahren gegen die Polizei eingestellt. Krüger bezieht sich damit auf deutschlandweite Zahlen. In Baden-Württemberg sehe das Verhältnis aber ähnlich aus. Besonders drastisch zeige sich das Problem anhand der Ermittlungen zum G20-Gipfel in Hamburg vor fünf Jahren, wo bis heute keine Anklage gegen Polizistinnen und Polizisten erhoben wurde.
Polizeigewerkschaft sieht eher restriktiven Umgang mit Fehlern
Die Polizei selbst widerspricht. "Aktuell haben wir nach unserer Auffassung doch eher einen restriktiven Umgang mit Fehlern", erläutert der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, auf SWR-Nachfrage. Man könne weder eine "fehlerverzeihende Kultur" noch eine "fehlervertuschende Kultur" in der Polizei feststellen.
"Ich selbst will deshalb solchen pauschalen Bewertungen mit aller Entschiedenheit entgegen treten," so Kusterer. Bei mehr als 35.000 Polizeibeschäftigten in Baden-Württemberg müsse die Bürgerbeauftragte solche verallgemeinernden Aussagen erst einmal beweisen und mit Fakten unterlegen, erklärt der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft weiter.
Keine klare Erfassung von Polizeigewalt in der Kriminalstatistik
Gemäß den bundeseinheitlichen "Richtlinien für die Führung der Polizeilichen Kriminalstatistik" erfolgt in der PKS keine berufsspezifische Erfassung von Tatverdächtigen, teilt das Innenministerium dem SWR mit. Aufgrund dessen sei anhand der PKS auch keine belastbare Aussage zur Anzahl der durch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte begangenen Körperverletzungen im Amt möglich.
Es würden alle Amtsträger, neben Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten daher auch beispielsweise Justizvollzugsbeamtinnen und Justizvollzugsbeamte, erfasst. Zuletzt wiesen die Deliktszahlen laut Innenministerium eine rückläufige Tendenz auf.
Etwa 400 Anzeigen gegen die Polizei jährlich
In den Jahren 2017 bis 2021 wurden durchschnittlich 33 Fälle pro Jahr registriert. Bei der Erfassung der Anzeigen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte handele es sich um eine sogenannte Eingangserfassung. Diese ließe keine Rückschlüsse zu, ob tatsächlich ein unrechtmäßiges Handeln der Polizei vorlag, so das Ministerium. In den vergangenen fünf Jahren lag das Anzeigenaufkommen bei durchschnittlich 400 Anzeigen gegen die Polizei in Baden-Württemberg pro Jahr.
Dagegen wird in Baden-Württemberg der tödliche Schusswaffengebrauch - sofern dieser für den Tod des polizeilichen Gegenübers ursächlich ist - statistisch erfasst. Demzufolge verstarben laut Innenministerium im Jahr 2020 drei Personen und im Jahr 2021 eine Person infolge eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs. Eine Häufung ist insofern nicht festzustellen. Allerdings werden in der Statistik keine anderen Todesursachen durch eventuelle Gewaltausübung im Amt aufgeführt.
Bürgerbeauftragte: Polizei im Umgang mit psychisch Kranken überfordert
Großen Nachholbedarf sieht die baden-württembergische Bürgerbeauftragte Böhlen vor allem im Umgang mit psychisch Kranken. Viele Polizeikräfte seien schlicht mit solchen Situationen überfordert, da sie nicht richtig darauf vorbereitet seien. Bei dem verstorbenen 47-Jährigen in Mannheim lag eine solche Erkrankung vor.
Neben dem gängigen Einsatztraining lehre die Hochschule für Polizei Baden-Württemberg (HfPolBW) den allgemeinen Umgang mit psychisch erkrankten Personen, erklärt man dagegen im Innenministerium. Darüber hinaus stünden nach der Ausbildung oder dem Studium entsprechende Fortbildungsveranstaltungen zur Verfügung, die den Umgang mit psychischen Erkrankungen aufgreifen.
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Laut der Polizeigewerkschaft und deren Landesvorsitzenden in Baden-Württemberg, Ralf Kusterer, werden Polizeibeamtinnen und -beamte immer häufiger Opfer von Gewalt durch psychisch Kranke und anderen schuld- und deliktunfähigen Menschen. Auf diese Situationen müsse man in der Ausbildung deshalb verstärkt eingehen.
Wenn die Polizei sich dann körperlich zu Wehr setze, verübe sie Zwang, so Kusterer. Nach Ermessen der Polizeigewerkschaft geschehe das in der Regel auch der Situation angemessen.
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Amnesty International fordert Kennzeichnungspflicht
Um die Einzelfälle richtig zu beurteilen fehlt es laut Menschenrechtsorganisationen an Transparenz innerhalb der Polizei. Deshalb fordert beispielsweise Amnesty International eine allgemeine Kennzeichnungspflicht für alle Polizistinnen und Polizisten. Auch die Einführung unabhängiger Untersuchungseinrichtungen, wie es sie in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern bereits gebe, sei nötig, so Polizeiexperte Krüger von der NGO. Diese Einrichtungen könnten helfen, Fälle von rechtswidriger Polizeigewalt aufzuklären, und dabei auch strukturelle Probleme, wie beispielsweise Ausbildungsdefizite, zu beleuchten.
Auch Polizeikräfte haben durch Gewaltanwendung und Gewalt gegen sie selbst erhebliche Stresssituationen, mit denen Sie umgehen müssen, erklärt die Bürgerbeauftragte Böhlen. Das wissen auch die Lehrkräfte an der Polizeihochschule. Vor allem auf Todesfälle im Einsatz vorzubereiten sei schwer.
Polizeiausbildung: Vorbereitung auf den Einzelfall schwierig
Umstände, unter denen ein Mensch zu Tode kommt, werden sicher unabhängig von der Einsatzsituation immer als belastend erlebt, weiß Uwe Seidel von der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen. Man könne sagen, dass das Risiko, mit einer belastenden Situation konfrontiert zu werden, im Polizeiberuf höher sei als in vielen anderen Berufsbereichen. "Der empfundene Belastungsgrad und auch der Umgang mit der Belastung in oder nach einer Einsatzsituation unterscheidet sich jedoch individuell." Deshalb sei es schwierig, im Rahmen der polizeilichen Ausbildung auf den Umgang mit der Belastung aus einer spezifischen Einsatzsituation vorzubereiten.
In der Polizeiausbildung werde versucht, zunächst einen Informationshintergrund über die möglichen psychischen Vorgänge in Belastungssituationen zu schaffen. Das betreffe den Umgang mit Stress bis hin zu traumatischen Ereignissen. Daraufhin wird ein möglichst breites Spektrum an Bewältigungsmöglichkeiten und Hilfsangeboten vorgestellt, damit der oder die Einzelne die Möglichkeit hat, hier einen individuell passenden Weg zu finden.
Dazu stehen laut Innenministerium bei allen Dienststellen und Einrichtungen psychosoziale Beraterinnen und Berater als erste Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfügung. Diese sind zudem mit Polizeipsychologinnen und -psychologen, Polizeiärztinnen und -ärzten sowie den Polizeiseelsorgerinnen und -seelsorgern vernetzt und können so individuelle Hilfsangebote vermitteln.
Aufarbeitung von Polizeieinsätzen
Nach einem Einsatz erfolge eine Einsatznachbereitung, erklärt der Sprecher des Innenministeriums. Die Einsatznachbereitung folge keinem starren Rahmen und orientiere sich am konkreten Fall. Je nach Tragweite und Umfang des Einsatzes erfolge die Nachbereitung im kleinen Gruppenrahmen als Austauschgespräch oder mit einer strukturierten Aufarbeitung. Neben der internen Sicht werden hierbei auch das Handeln des Gegenübers sowie die Wahrnehmungen polizeifremder Akteurinnen und Akteure wie beispielsweise der Rettungsdienste oder der Polizeibehörden sowie Ermittlungsergebnisse miteinbezogen.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty und die Bürgerbeauftragte des Landes Baden-Württemberg sehen dabei allerdings weiter Handlungsbedarf. Dunkelziffern bei den Fällen und fehlende Transparenz bei der Polizei würden häufig als Probleme thematisiert.