Neun Jahre lang hat Günther Oettinger (CDU) als Kommissar die Geschicke der Europäischen Union mitgeleitet. An vielen Tagen habe die Freude überwogen, an manchen die Frustration. Trotzdem sei er "Fan" der EU. "Mein Großvater war zwei Mal im Krieg, mein Papa einmal", sagte er in der SWR-Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg". "Früher hat man auf dem Schlachtfeld gekämpft, heute wird über den Schreibtisch hinweg gestritten - aber es ist friedlich", so Oettinger, der vor seiner Arbeit für die EU Ministerpräsident in Baden-Württemberg war.
Vizepräsident des EU-Parlaments: Man sieht sich immer zweimal
Trotzdem muss oft ein gemeinsamer Nenner her. Damit kennt sich auch der Vizepräsident des EU-Parlaments, Rainer Wieland (CDU), aus. "Jedes Land hat seinen Blick auf die Welt", sagte Wieland, der seit 26 Jahren als Baden-Württemberger in der EU-Politik mitmischt. "Da gilt es dann zu verstehen, warum der Andere anderer Meinung ist und wenn man das versteht, findet sich auch leichter eine Lösung, als wenn man glaubt, der andere ist halt blöd oder unwillig." Noch mehr als bei Menschen gelte bei Staaten die Regel: Man sieht sich immer zwei Mal, so Wieland.
Eigentlich sollen die Abgeordneten im EU-Parlament die Interessen Europas und nicht die ihres Landes vertreten. Das sei aber nicht immer der Fall, erzählt die Grünen-Abgeordnete, Anna Deparnay-Grunenberg. "Wenn es dann heißt, 'bei uns in Portugal ist das aber so und so', merkt man, da fühlt sich jemand sehr seinem Heimatland verbunden."
Oettinger über Kabinettskollegen: "Fantastische" Multikultur
Günther Oettinger erinnert sich gerne an seine Kolleginnen und Kollegen aus dem EU-Kabinett zurück. Er beschreibt sie als "einen knorrigen Iren, eine junge Portugiesin, einen erfahrenen Polen, und einen Sizilianer". Alle hätten ihre eigene Kultur, Sprache, Religion, Küche, die Vielfalt ihrer Lebensläufe mitgebracht. Diese Multikultur sei "fantastisch" gewesen.
Seiner Meinung nach ist heute vieles selbstverständlich, was früher noch ganz anders war. "Als ich als Student nach Straßburg gefahren bin, wurden wir an der Grenze jeweils eine halbe Stunde gefilzt: Kofferraum, Motorraum und Innenraum", erzählte Oettinger. "Wir hatten Reiseschecks dabei, mussten in Franc umtauschen und haben den Pass gezeigt." Heute könne man dagegen im 12-Minuten-Takt von Kehl nach Straßburg fahren. Das sei ein riesiger Vorteil. Hinzu komme die gemeinsame Währung. "Ein Exportland wie Baden-Württemberg hat daran größtes Interesse."
Europawahl am 9. Juni Acht Gründe, warum die EU wichtig für Baden-Württemberg ist
Gefühlt ist die EU für die Menschen in Baden-Württemberg eher weit weg. Dabei sind die Auswirkungen von EU-Entscheidungen ziemlich entscheidend für das Land - acht Beispiele:
Für den Grünen-Abgeordneten aus Stuttgart, Michael Bloss, steht fest, dass Deutschland oder auch Baden-Württemberg nicht allein in der Welt bestehen können. Diese Idee sei "aus dem vorletzten Jahrhundert". Die Europäische Union mache unglaublich viel für Bürgerinnen und Bürger, so Bloss. Das Problem aus seiner Sicht: Wenn es etwas Gutes sei, dann rechne man das dem lokalen Abgeordneten an. Und wenn es etwas Schlechtes sei, dann mache man die EU dafür verantwortlich. "So darf das nicht weitergehen, weil wir uns damit schwächen", sagte Bloss.
EU für Oettinger kein Minusgeschäft - Kritik im Detail
Die Europäische Union fördert in Baden-Württemberg die Landwirtschaft, aber auch innovative Firmen oder Sozialprojekte wie Jugendhäuser. Unterm Strich zahlte Deutschland im Jahr 2022 aber 19,7 Milliarden Euro mehr, als es von der EU bekam. Für Oettinger ist die EU trotzdem kein Minusgeschäft - im Gegenteil. Wenn Geld von Stuttgart über Berlin nach Brüssel fließe und es in Tschechien, der Slowakei oder Bulgarien für Straßen-, Schienenbau oder für Fabriken ausgegeben werde, erhielten oft deutsche Firmen Aufträge in diesem Zusammenhang. "Das heißt, die Gesamtbetrachtung ist für uns klar positiv", ist der CDU-Politiker überzeugt.
Aber Oettinger übt auch Kritik an einzelnen Vorhaben der EU. Zum Beispiel ist die Medizinprodukteverordnung für ihn "ein krasser Fehler". Eigentlich soll die Verordnung für mehr Sicherheit im Gesundheitswesen sorgen. Für manche Unternehmen ist das strenge und aufwändige Zulassungsverfahren aber eine zu hohe Hürde, weshalb sie sich gar nicht um eine Zulassung ihrer Produkte bemühen. "Für große Konzerne ist das Ganze kein Problem, aber der Mittelstand in diesem Bereich hat Probleme", sagte Oettinger. Für ihn ist es "ein Thema Baden-Württembergs", weil hierzulande einige Medizintechnik-Unternehmen angesiedelt sind.
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Oettinger erinnert sich auch noch an einen Tiefpunkt, den er während seiner Zeit als EU-Energiekommissar erlebt habe. Damals vermittelte er im sogenannten Gasstreit zwischen Russen und Ukrainern. Es ging dabei um Erdgaslieferungen von Russland an die Ukraine und den Transit nach Europa. Zwischen 2013 und 2014 habe es 40 Sitzungen gegeben, so der CDU-Politiker. "Ich habe mehrfach gemerkt, dass die Russen nicht immer fair gespielt haben und dass die Ukraine damals noch etwas chaotisch war." Es sei schließlich gelungen, den Gasstreit zu beenden. "Aber da war ich mehrfach dran zu glauben, das Ganze kann gar nicht gelingen."
Früherer AfD-Chef Meuthen: Alles viel zu teuer - vieles läuft schief
Der ehemalige AfD-Chef und jetzige EU-Abgeordnete, Jörg Meuthen (parteilos) zieht nach sieben Jahren ein kritisches Fazit: "Das Ganze hier ist von einem unglaublichen Aktionismus gespeist. Wir haben 705 Abgeordnete mit einer noch viel größeren Zahl an Mitarbeitern - und die wollen alle beschäftigt sein." Für ihn ist das alles viel zu teuer, sagt Meuthen. Die EU abschaffen würde er nicht, aber sie ändern. "Hier läuft vieles schief", sagt er. Es würde viel zu viel Unnützes gemacht. Anderes, was getan müsse, bleibe liegen. "Denken Sie an die Bereiche Außen- und Verteidigungspolitik, das wäre durchaus eine Gemeinschaftsaufgabe. Wir brauchen nicht 27 parallele Verteidigungspolitiken." Diese Baustelle überlässt Meuthen jetzt aber anderen. Es ist seine letzte Woche im EU-Parlament. Danach muss er, wie alle anderen Abgeordneten kurz vor der Wahl, sein Büro räumen.
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Oettinger warnt vor rechten Parteien im EU-Parlament
Oettinger macht im Hinblick auf die anstehende Europawahl die Zustimmung zu rechten und euro-skeptischen Parteien Sorge. "Ich glaube, dass die AfD, der französische Rassemblement National, die österreichische FPÖ oder die italienische Lega eine Gefahr sind", sagte er. Oettinger unterscheidet aber. Es gebe Rechte, die Europa akzeptierten. "Ich glaube, Giorgia Meloni handelt pragmatischer, als man vor zwei Jahren dachte", sagte der frühere EU-Kommissar. Meloni von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia ist seit 2022 Ministerpräsidentin in Italien.
Der CDU-Politiker geht aber davon aus, dass die pro-europäischen Parteien auch nach der Wahl weiter dominieren werden. "Ich hoffe, dass die Abgeordneten, die an Europa festhalten, es stärken und reformieren wollen, eine klare Mehrheit erringen können", sagte Oettinger.